PHILOSOPHIE ALS KUNST?


Kunst als Poros, Aporie als Kunstgriff


Nietzsches philosophisches Werk ist voller Gegensätze. Es wimmelt von Paradoxen und Widersprüchen. Ausdrücke, Redewendungen, ja, sogar ganze Argumentationen scheinen absichtlich paradoxal oder aporetisch konstruiert oder komponiert zu sein. Nicht nur Ausdrücke wie "wie man wird, was man ist", "ein Buch für Alle und Keinen", 'Dionysos oder der Gekreuzigte' oder Behauptungen von der Art "alles ist perspektivisch", "Sein ist Schein", "die Wahrheit ist eine Lüge" und "die Wahrheit besteht nicht" sind ein Beweis dafür, sondern es treten auch allerlei Widersprüche in und zwischen den Gedanken des Willen zur Macht, des Übermenschen und der Ewigen Wiederkehr auf. So herrscht zum Beispiel eine Spannung zwischen dem 'Ewigen' und der 'Wiederkehr' und lässt sich der evolutionäre Aspekt, der im 'Übermenschen' durchklingt, nicht mit dem zyklischen Gedanken der Ewigen Wiederkehr reimen.[1] Wenn Karl Löwith recht hat und diese 'formalen und scheinbaren Widersprüche' sich gegen einen unlösbaren "Grundkonflikt im Verhältnis von Mensch und Welt"

die Kunst der Sprache und die Sprache der Kunst

[2] abzeichnen, wird die Frage interessant, ob Nietzsche vielleicht, des aporetischen Inhalts dieses 'existentiellen' Grundkonfliktes eingedenk, in allen Dimensionen seiner Philosophie bewusst eine aporetische Spannung heraufbeschworen und bewahrt hat. Diese würde sich dann immer in der Form von Widersprüchen und Paradoxen melden. Jeder Versuch, ein spezifisches Paradox auszuräumen missglückt letzthin, weil man auf den durch Löwith geschilderten unversöhnlichen Grundkonflikt stösst. Die damit gegebene Aporie scheint dann auch die Grundstruktur von Nietzsches Denken zu sein. Ich möchte den störrischen Zusammenhang zwischen Nietzsches Philosophieren und dieser fundamentalen 'Widersprüchlichkeit' vor dem Hintergrund seines Ästhetizismus betrachten. Darunter verstehe ich die genealogische Zurückführung von Moral und Wissenschaft auf eine ästhetische Grundhaltung gegenüber dem Leiden, wie in Nietzsches Behauptung "dass nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt sind" (1.152)[3]. Der Anlass hierzu sind ein paar kurze Aufzeichnungen, die Nietzsche ungefähr 1870 als Vorbereitung auf Die Geburt der Tragödie (1872) macht und die vor allem die Rolle der Kunst, die Art der Wirklichkeit und die Wirkung des Widerspruches angehen. Ich möchte behaupten, dass die aporetische Spannung in Nietzsches Werk nicht für einen Mangel an logischer Einsicht zeugt und ebensowenig eine rhetorische Begleiterscheinung ist, sondern vielmehr die Folge einer systematischen Zersetzung der Logik und des oppositionellen Denkens ist. Mit der Aporie ruft Nietzsche, genauso wie die Mystiker, im Denken eine Erfahrung wach, die sich selbst verwirrt und in der das Wesen des Daseins sozusagen resoniert. In diesem Sinn funktioniert die Aporie als ein diskursiver Kunstgriff, um die Wirklichkeit 'erfahrungsmässig' oder experimentell zu 'erfassen'.

1 I. Kunst als experimenteller Zugang zum Leben

Dass Nietzsche den Widerspruch positiv einschätzt, ersieht sich aus zahllosen Bemerkungen sowohl in seinem veröffentlichten Werk als auch im Nachlass. So ist es "ein Zeichen von Wohl und Machtgefühl, wie weit einer den Dingen ihren furchtbaren, ihren fragwürdigen Charakter zugestehen darf; und ob er überhaupt 'Lösungen' am Schluss braucht" (WzM nr. 852). Er teilt scheinbar nicht die Ansicht der akademischeren Philosophie, für die der Widerspruch entweder ein heuristisches Mittel oder die Untergrabung des Kennens bedeutet. Es ist darum auch nicht verwunderlich, dass so mancher Denker des zwanzigsten Jahrhunderts mit einer Neigung für Nietzsches Ideen versucht hat, die Widersprüche in dessen Werk auszuräumen.[4] Das dies geschieht, ist nicht so bemerkenswert, wie die Art und Weise auf die es geschieht. Weniger wohlwollende Kritiker haben zum Beispiel das unausweichliche Vorhandensein der Widersprüche dazu benützt, um zu beweisen, dass Nietzsche, obwohl er behauptete, radikale Kritik auf die Metaphysik zu üben, durch die blosse Umkehrung von Gegensätzen ein Exponent der metaphysischen Beweisführung blieb.[5] Auch Heidegger bezieht sich auf Nietzsches Bemerkung als ob dessen Denken 'ein umgedrehter Platonismus' wäre, ohne dass er übrigens 'solch billige Einwände'[6] wie den einer simplen Umkehrung gegen ihn macht. Allerdings kommt er trotzdem zu der Schlussfolgerung, dass Nietzsches Hammerschläge gegen die Mauern von Platons metaphysischer Festung höchstens eine gründliche Erneuerung dieser metaphysischen Burg zur Folge haben. Die Konstruktion eines ganz neuen Hauses, in dem sich der post metaphysische Mensch niederlassen könnte, dichtet Heidegger wörtlich sich selbst zu. Trotzdem ist es die Frage, ob dieser Vorwurf Nietzsche trifft. Viel spricht dafür, dass er durch seinen besonderen Umgang mit der Sprache Heideggers Projekt bereits angekurbelt hat.[7] Ich will versuchen, diesen Sprachaspekt ein wenig zu belichten.

1. An der Opposition vorbei selbst spaltendes Leben.

Dass Nietzsche sich nur schrittweise von der Metaphysik befreite wird vor allem aus seinen frühen Aufzeichnungen aus 1870/71 deutlich. Daraus kann man ersehen, wie er den Streit mit den traditionellen philosophischen Begriffen, Kategorien und Philosophemen anbindet, um die bereits erwähnte Einsicht in den Griff zu bekommen, die der Geburt der Tragödie zugrunde liegt. Mehr noch als Plato ist hierin Kant die Zielscheibe und zwar vor allem die durch ihn behandelte Thematik des Geschmackurteils in seiner Kritik der Urteilskraft.[8] Mit dessen transzendentaler Analyse des Schönen einerseits als Ausgangspunkt und anderseits als Punkt des sich kritischem Abhebens vor Augen bemerkt er, dass "es ein Naturschönes nicht gibt. Wohl aber das Störende Hässliche und einen indifferenten Punkt"(7.164). Der Gedankengang wird mit der musikalischen Metapher fortgesetzt: "Man denke an die Realität der Dissonanz gegenüber der Idealität der Konsonanz". Nur dem in der Musik als Dissonanz erklingenden Störend Hässlichen wird anscheinend Realität zugemessen. In einer folgenden Wendung wird die produktive Auswirkung dieser Dissonanz physiologisch charakterisiert: "Produktiv ist also der Schmerz, der als verwandte Gegenfarbe das Schöne erzeugt aus jenem indifferenten Punkt". Anscheinend geht dieses letzte dem Gegensatz schön hässlich 'voraus'. Was wird mit 'jenem indifferenten Punkt' gemeint? Der Gebrauch des Wortes 'Punkt' an dessen Stelle in aktuellen Debatten durch den Einfluss neuer theoretischer Konzeptualisierungen in der Astrophysik häufig der Begriff 'Singularität' gebraucht wird weist darauf hin dass es hier um eine fiktive Annahme geht: ein Punkt hat keine wahrnehmbaren Dimensionen und dient dennoch als Basis für jede Orientierung Raum und Zeit. Wenn wir Nietzsches Gedankengang weiter verfolgen, entsteht das Vermuten, dass die beunruhigende Erfahrung, die er in Die Geburt der Tragödie als dionysischen Rausch charakterisiert, dafür als erste in Betracht kommt.[9] Dieser Rausch enthält durch die Zerstückelung des principium individuationis indirekt die Elemente des 'Störend Hässlichen', der 'Dissonanz' und des 'Schmerzes'. Dem Beispiel des durch Schopenhauer in die westliche Philosophie eingeführten Buddhismus folgend sieht Nietzsche im Schmerz und im Leiden anscheinend eine Art physiologischer Dissonanz, die den schönen Schein erfordert, um erträglich zu sein.[10] Die implizite Kritik an Kants Analyse des ästhetischen Urteils trifft direkt die dahinterstehende Annahme des selbstreflexiven Bewusstseins oder des 'Ich denke', dass sich in praktischer Hinsicht als das autonome Subjekt artikuliert. In dem dionysichen Rausch offenbart sich, was erst noch schopenhauerisch das Ur Eine, später aber Wille zur Macht genannt wird: ein Kräftefeld, dass durch die durch Kant postulierte Einheit des urteilenden Cogito zersetzt wird. Der Rausch ist, vollkommen in Übereinstimmung mit dem 'Wesen'(7.191)[11] der Wirklichkeit eine nicht harmonische, unartikulierte Erfahrung des 'Seins', wobei wir den Begriff 'Erfahrung' selbstverständlich nicht im kantischen Sinn verstehen dürfen. Dieser als Kräftefeld gedachte dionysische Wille lässt sich, sobald wir versuchen, seine Auswirkung durch denken in den Griff zu bekommen, nicht unter einen allgemeinen Nenner bringen. Dies wird durch ein Anzahl Fragmente etwas weiter in den Aufzeichnungen bestätigt: "Das Leidende, Kämpfende, sich Zerreissende ist immer nur der eine Wille..."(7.166), und "Es gibt nur ein Leben, ein Empfinden, einen Schmerz, eine Lust. Wir kennen also den Schmerz, die Lust, das Leben nicht an sich"(7.197). Nach und nach wird Nietzsche diese noch metaphysisch geladene Beschreibung in den Gedanken eines Kräftekomplexes verändern, in dem sich die doppelte Wirkung von Selbsterhaltung und Überwindung äussert. So wird später "das eigentliche Geschehen alles Fühlens und Erkennens (...) eine Explosion der Kraft"(11.64), ein Ereignis, das nur unter bestimmten Umständen wie zum Beispiel bei 'äusserster Intensität', 'Wollen' genannt wird. Letzten Endes wird in Jenseits von Gut und Böse der Wille "vor allem etwas Complizirtes, etwas das nur als Wort eine Einheit ist"(5.32). Erst dann ist die Metaphysik ein grammatikalischer Effekt geworden. Als Nietzsche 1888, kurz bevor er sein Projekt Der Wille zur Macht, für das er viele Entwürfe gemacht hat, aufgibt, in einer Radikalisierung seiner Kantkritik das Statut der 'Dinge' zur Diskussion stellt und in einer Kritik des mechanischen Erklärungsmodells kurz den Charakter des Willens beschreibt, versucht er jede Metaphorik zu vermeiden, indem er Begriffe wie "dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen anderen dynamischen Quanta"(13. 259) anwendet. Das 'Wesen' der früheren Texte ist nun vollständig in einer Dynamik aufgelöst, die er selbst nicht aus dem Gegensatz Sein Werden deutet, sondern als ein 'Pathos', als die elementarste "Thatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergiebt"(13.259).[12] Seine Sprache wird minimal. So lautet die Antwort auf die essentialistisch getönte Frage nach dem, was ein Kraftquantum ist, dass das nur aus der "Wirkung, die es übt und der es widersteht"(13.259) deutlich wird. Ein in sich selbst aufgeworfener Widerstand ist scheinbar die minimale Qualität eines Pathos, das dadurch grundsätzlich vielfältig, weil selbstspaltend ist. Das schliessliche Ergebnis ist eine Vielheit von Willen, die in sich selbst und untereinander nach Widerstand streben. Nietzsche kennzeichnet diesen Willen in seinen frühen Aufzeichnungen noch pseudo metaphysisch als "de(n) vollkommen(n) Widerspruch als Urgrund des Daseins"(7.166), eine Formulierung, die regelmässig zurückkehrt. So heisst es zum Beispiel in einem späteren Hinweis auf Kant: "Die 'erste Ursache' ist, wie das 'Ding an sich', kein Räthsel sondern ein Widerspruch" (11.65). In der Tragödie, "im Wesen des Tragischen" tritt dann "der Genuss am Widerstand" auf, der sich "...als das Wesen der Dinge (...) in der tragischen Handlung wieder(spiegelt). Er erzeugt aus sich eine metaphysische Illusion, auf die es bei der Tragödie abgesehen ist. Der Held siegt indem er untergeht"(7.191). In dem schönen Schein des griechischen 'Dramas' spiegelt sich in dem tragischen Untergang des zur Einsicht getriebenen Helden der Widerspruch des Daseins. An der Tatkraft des Helden kann man sozusagen 'das Wesen der Dinge' ablesen. Seine Taten werden ihm aber mehr durch einander widerstrebende, wohl oder nicht Göttern zugesprochene Kräfte eingegeben als durch eindeutige Motive und Absichten des Täters.[13] Der nicht absichtliche, 'experimentelle' Aspekt wird in einer Fussnote in einem gegen Wagner gerichteten Text bestätigt, in dem Nietzsche die Thematik der Geburt der Tragödie wieder aufgreift. Darin wird die Bedeutung des Wortes 'actio' oder 'drama', was so viel heisst wie 'Ereignis', 'Geschichte', nicht, wie bei Wagner, auf die Handlung zurückgeführt, sondern auf den dorischen Ursprung. "Das älteste Drama stellte die Ortslegende dar, die 'heilige Geschichte', auf der die Gründung des Cultus ruhte (also kein Thun, sondern ein Geschehen: 'dran' heisst im Dorischen gar nicht 'thun')"(6.32). Mit anderen Worten: erst kommt die Tat, dann, erst durch retrospektive Zuteilung der Bedeutung, der Täter. Der Vorwurf, dass bei Nietzsche nur von einer einfachen Umkehrung der metaphysischen Gegensätze die Rede ist, scheint nun überdeutlich fehl am Platz. Der positive Begriff (das Schöne) vor allem eine notwendige Scheinbewegung, die durch eine aus einem indifferenten Zustand (Rausch) heraus wirkende, in sich selbst gespaltene und immer aus konkreten Mengen bestehenden Ausrichtung (Willen) her generiert wird. Das autonome Subjekt kann diesen indifferenten 'Zustand' durch dessen heteronomen Charakter nachträglich nicht anders denn als einen negative Wert (hässlich), das heisst so wie Kant als eine privative oder wie Hegel als eine dialectische Negation des positiven Begriffes denken. Der Gegensatz wird also nicht umgekehrt, sondern vom Leben her 'umgewertet'. Er ist als Ganzes eine Funktion eines überreichen Lebens, ein Pathos. An dieser Stelle taucht wieder der durch Löwith lokalisierte 'Grundkonflikt' auf und präsentiert sich die Aporie folgendermassen: Wie kann Nietzsche dasjenige denken, was sein Denken motiviert und produziert?[14] Wie weiss Nietzsche, was er nicht wissen kann? Der Schlüssel zu der Antwort liegt, wie ich darlegen werde, in der Neuformulierung der 'Wissen'schaft, wie sie Nietzsche in dem Werk Die fröhliche Wissenschaft vollzieht. Allem voran geht die Zerrüttung aller Gegensätze. Doch kehrt diese Neubewertung nicht immer gleich deutlich in den späteren Texten zurück. Manchmal scheint sich Nietzsche unnötig zu widersprechen. Oft haben wir es dann aber mit einem Paradox zu tun, das durch eine implizite Veränderung der Perspektive verursacht wird. Ein Beispiel genügt, um dies zu verdeutlichen. Nietzsche übersetzt in den Aufzeichnungen zur Neuausgabe der Geburt der Tragödie 1886 unter dem Titel "Der tragische Künstler" den Gedanken des Willens zur Macht in Begriffe des ekstatisch, tragisch dionysischen Zustands seines frühen Werks zurück. Wie Hegel in dessen 'spekulativem Satz' [15] bringt er zwei einander ausschliessende Stellungen auf kaum merkbare Weise in einer Behauptung unter. Als 'Gefühl der Fülle' oder ein 'Machtgefühl', das heisst aus Überfluss und Kraft "spricht das Urteil 'schön' noch über Dinge und Zustände aus, welche der Instinkt der Ohnmacht nur als hassenswert, als 'hässlich' abschätzen kann"(WzM: nr. 852) Mit anderen Worten: was für den Ohnmächtigen, den 'Sklaven' hässlich ist, was sich ihm, "wenn es ihm leibhaftig entgegenträte, als Gefahr, Problem, Versuchung" präsentiert, wird durch den aus dem Überfluss handelnden, tragischen Künstler, Herrn oder Vornehmen als 'schön' erfahren. Nietzsche scheint hier seine frühere 'Umwertung' zunichte zu machen. Aber die Betonung liegt hier auf 'erfahren'. Wenn die Eigenschaft auf etwas zutrifft, dann wohl auf die sich als überwältigender Überfluss darstellende Tatkraft. Diese Hinwendung zu einer anderen Art, zu einer fast vorästhetischen 'Schönheit' wird später in Zur Genealogie der Moral auf analoge Weise mit Beziehung auf das 'Gute' ausgearbeitet. Nietzsche spricht dort über ein vormoralisches Gutes, das im scheinbaren Gegensatz gut schlecht durchwirkt. Es handelt sich hier um die Bewertung der Taten der Vornehmen. Genauso wie das Schöne ist die nachträglich als 'gut' gekennzeichnete Tat anfänglich wertfrei, weil man sie nicht von einem zuvor gegebenen Wert aus prüfen kann. Insoweit geht es um ein vor moralisches Gutes. Der Wert wird ihm erst hinterher durch den Sklaven 'zugeschrieben', weil die Tat des Herren ihm zur Richtschnur seines Verhaltens wird. Insofern ist die wertlose Tat des Herren wertschöpfend. Dieselbe Argumentation gilt meines Erachtens für das Urteil 'schön'. Oder kantisch formuliert: dieses Geschmacks'urteil' wird nicht im Selbstbewusstsein fundiert, sondern ist höchstens als eine retrospektiv erkennbare Scheinbewegung der Grammatik eine vollkommen willkürliche und sprachliche Wertung: ein eine Einheit suggerierendes 'Wort'. Aber wenn der Widerspruch 'Urgrund des Daseins' ist, und dieser in der Musik als Dissonanz erklingt oder als Schmerz empfunden wird[16], ist das Leid dann nicht, wie Aristoteles, Hegel und Schopenhauer auf immer verschiedene, aber strukturell verwandte Weise behaupten, wenigstens zeitweilig durch die Kunst aufzuheben? Anfänglich scheint Nietzsche diese Ansicht zu teilen. In seinen frühen Aufzeichnungen weist er auf die "Richtung der Kunst, die Dissonanz zu überwinden: so strebt die aus dem Indifferenzpunkte entstandene Welt des Schönen danach, die Dissonanz als das an sich Störende mit in das Kunstwerk hinüberzuziehn"(7.166). Es ist verführerisch, hierin eine Variante der aristotelischen Katharsis, der hegelschen Aufhebung oder der schopenhauerschen Läuterung wiederzuerkennen. Dieser Eindruck wird durch die Bemerkung verstärkt, dass "das Mittel die Wahnvorstellung, überhaupt die Vorstellung (ist), mit der Grundlage, dass ein schmerzfreies Anschauen der Dinge hervorgebracht wird"(7.166). Nietzsche hält sich anscheinend eine dergleichen schopenhauersche Option erst noch offen: "Wie ist Schmerzlosigkeit möglich?"(7.165). Aber schon schnell schlägt sein Zögern ("Der physiologische Prozess ist welcher? Eine Schmerzlosigkeit muss irgendwo erzeugt werden aber wie?"(7.166)) in dem veröffentlichten Text in die Verwerfung des Katharsisgedankens um: "Die Kunst (....) allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt..."(1.157). Die Kunst nimmt den Schmerz nicht weg, sondern macht ihn höchstens erträglich. Oder etwas allgemeiner verständlich gesagt: eine gute Geschichte erleichtert den Schmerz. Die christliche Variante dieser Erkenntnis kann man folgendermassen ausdrücken: Die Geschichte des Sündenfalls und das Versprechen des Himmels bieten einen Zusammenhang für das unerträgliche Leiden, das an sich kein Problem ist, wie die ausserordentliche Gewalttätigkeit, die das Christentum selbst entfesselte, zeigt. Nur die Sinnlosigkeit des Leidens stellt den Menschen vor Probleme. Die Tragödie ist also nicht für die Zuschauer bestimmt "um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen"(6.160), wie es irgendwo in einer Kritik auf Aristoteles' Poetica heisst. Sie bestätigt gerade die Dissonanz und das Leiden. Der notwendige Schein, das Schöne macht das mit sich selbst im Widerspruch verkehrende Leben erträglich. Nietzsches Wertschätzung des Scheins hat weitreichende antropologische und pädagogische Implikationen: "Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken und was ist sonst der Mensch? so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke"(1.155). Aber wenn die Tragödie ein 'Schönheitsschleier' ist, dann gilt das im selben Mass für alle Sinngebungen, die den Anspruch erheben, den Schmerz oder das Chaos zu neutralisieren. Also auch das 'Ich denke', cogito oder Subjekt ist so ein 'Schönheitsschleier'. Es ist eine notwendige, aber 'metaphysische Illusion', eine Fiktion. Eine unvermeidliche Scheinbewegung. Hieraus wird noch einmal deutlich, dass der Gegensatz Sein Schein ebenso wenig wie der zwischen schön und hässlich einfach umgedreht wird: der Gegensatz pfropft sich vielmehr auf ein als Dissonanz qualifiziertes 'Pathos', das nicht aus diesem Gegensatz verstanden werden kann, aber uns doch immer wieder dazu verführt, sobald wir darüber nachdenken.

2. Indifferenz: Gleichgültigkeit, Negativität oder Affirmation?

Aber was ist nun dieser merkwürdige 'Indifferenzpunkt', über den Nietzsche immer spricht? Die Frage drängt zich auf, in welchem genauen Verhältnis er zu den Gegensätzen schön hässlich oder Sein Schein steht. Lassen wir dazu aus polemischen Erwägungen die Definition des 'Denkens' von Hegel, Nietzsches anderem Antipoden, der mehr noch als Kant fast unausgesprochen kritisiert wird, übernehmen. Hegels Definition ist für Nietzsche selbstverständlich eine Frage des Geschmacks, genauso wie "Hegel ein Geschmack ist"(6.36). 'Denken' im hegelschen Sinn wird das vermittels Negationen auseinandersetzen der Wirklichkeit in (formalonto)logischen Oppositionen. Die Spannung zwischen dem negativen und dem positiven Pol wird im Paragraphen 'Reflexionsbestimmungen' in Wissenschaft der Logik als Unterschied gedeutet. Unterschiede werden letzten Endes so eng aneinandergeschmiedet, dass sie über den Gegensatz zum Widerspruch werden.[17] Wenn man von dieser Definition ausgeht, dann drängt sich unmittelbar die Frage auf, ob die Indifferenz beim Fehlen von Unterschieden oder Differenzen überhaupt noch gedacht werden kann. Haben wir denkend nicht schon immer die Indifferenz überholt? Wenn Hegels systematische Philosophie bis sicher 1850 in hohem Mass für das damalige Denkklima bestimmend gewesen ist danach wurde er nach Marx Ansicht vor allem durch die Neokantianer als 'ein toter Hund' behandelt, dann erklärt das womöglich, warum Nietzsche die Indifferenz als '(Ab)grund' der Gegensätze zwischen Denken und Sein situieren muss, im Gegensatz zu Hegel der sie noch als Begriff denkt.[18] Diese Gleichgültigkeit kann Nietzsche nur wörtlich mit einer prinzipiell unmöglichen diskursiven Bewegung 'umschreiben'. Das Wort 'Indifferenz', müssten wir mit ihm sagen, ist die letzte Möglichkeit, die nicht logische 'Differenz' zwischen Denken und Sein ins Auge zu fassen.[19] Es ist nur ein Wort und kein Begriff. Ausserdem erhebt sich die Frage, ob solch eine Indifferenz dann dem Denken vorausgeht oder ob sie dessen ekstatische Vernichtung und Vollendung beinhaltet. Sowohl fürs erste wie fürs letzte spricht aufgrund früherer Aufzeichnungen einiges. "Was ist das Wesen noch in jenen Indifferenzpunkten? Ist die Zeit vielleicht, ebenso wie der Raum aus diesen Indifferenzpunkten zu erklären? Und ist die Vielheit des Schmerzes vielleicht wieder aus jenen Indifferenzpunkten abzuleiten?"(7.165) Mit dieser impliziten Verweisung auf Kants transzendentale Ästhetik am Beginn der Kritik der reinen Vernunft wird suggeriert, dass indifferente Punkte(!), jedem Verstandsakt, der in Zeit und Raum gegeben ist, systematisch vorausgehen. Die an anderer Stelle erwähnte 'Schmerzlosigkeit' hingegen erweckt den Eindruck, dass die Indifferenz nicht vor dem Denken, sondern als dessen Ekstase auftritt, als 'jene höchste Verzückung', die durch die Vorstellung oder den Schein erlebt wird. In Texten, die kurz nach der Geburt der Tragödie geschrieben sind, wird diese Ansicht bestätigt: "Aber die allgemeine Bewegung geht vom Schmerz zur Lust, das ist die positive Richtung. Freilich schwindet auch die Lust in der Richtung auf den Indifferenzpunkt" (8.155). Der 'Indifferenzpunkt' kann also sowohl den angestrebten End als auch den postulierten Anfangszustand betreffen. So wird es möglich, bestimmte Zustände des Kunstwerks oder des Künstlers als zwei Gestalten dieser Indifferenz aufzufassen. Die folgende Bemerkung, die mit einem Hinweis auf die eleusischen Mysterien endet, macht auf jeden Fall einen Vorschlag in der Richtung: "Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur Einen, offenbart sich unter den Schauern des Rausches. Der edelste Ton, der kostbarste Marmor, wird hier beknetet und behauen, der Mensch...." (1.30). Doch bleiben wir im Ungewissen und zwar nicht zuletzt, weil zum Beispiel in diesem Zitat ein plötzlicher Übergang zur Mehrzahl stattfindet. Im Licht der späteren Entwicklung des Gedankens vom Willen, der letzten Endes als Vielfalt präsentiert wird, ist das noch verständlich. Aber systematisch logisch ist eine Menge gegen diese Vervielfältigung einzuwenden, weil jede Qualifizierung des Nicht Begriffes 'Indifferenz', so gering sie auch ist, eine Schwächung von dessen amorphen Charakter bedeuten würde. Die Verwirrung erreicht ihren Höhepunkt, wenn klar wird, dass in dem Originalmanuskript anstelle des Wortes 'Indifferenzpunkt(e)' ursprünglich 'Differenzpunkt' stand (14.537), wie Colli und Montinari uns in ihren Kommentaren mitteilen. Aus all diesen ambiguen Beschreibungen können wir aber ersehen, wie holpernd Nietzsche versucht, ein Geschehen in den Griff zu bekommen, das sich jeder logischen Analyse widersetzt und das deshalb nur mit einem Nicht Begriff wie 'Indifferenz' angedeutet werden kann. Mit oppositionellen Denkkategorien kann man diese Indifferenz keinesfalls begreifen. Diese pfropfen sich vielmehr auf, sobald das Denken den Versuch unternimmt, die verwirrenden Kräfte zu begreifen und in den Griff zu bekommen, mit anderen Worten sobald das Subjekt probiert, seine Autonomie durch die Rationalisierung heteronomer Kräfte zu etablieren.

3. Kunst als Poros: Uberfluss, Mittel und Zutritt

Wenn der Urgrund des Daseins ein 'widersprüchliches' Kräftefeld , welche 'spiegelnde' Rolle spielt die Kunst dann? Nach Nietzsches Ansicht hängt der Ursprung des Kunstwerks eng mit dem menschlichen Bedürfnis zusammen, diese Indifferenz zu erfahren. "Die bunte Blüthe, der Pfauenschweif (das heisst der schöne Schein, ho) verhält sich zu seinem Ursprung, wie die Harmonie zu jenem indifferenten Punkt, d.h. wie das Kunstwerk zu seinem negativen Ursprung. Das was dort schafft, künstlerisch schafft, wirkt im Künstler"(7.165). Aus diesem letzten Zusatz wird wieder deutlich wie (der) Wille als Überfluss und Bejahung sowohl im Anfangsstadium im kreativen Rausch des Künstlers oder 'des Einzelnen' wie am Ende des künstlerischen Prozesses bei der Rezeption des Kunstwerkes situiert wird. In der Kunst wird die Welt immer wieder geschaffen: "Das Kunstwerk und der Einzelne[20] ist eine Wiederholung des Urprozesses, aus dem die Welt entstanden ist"(7.165). Wenn das Kunstwerk und die Tätigkeit des Künstlers etwas über das Sein aussagen, geschieht das also nie totalisierend und begriffsmässig, sondern immer im wörtlichen Sinn fragmentarisch und 'experimentell', das heisst durchlebt, erfahrungsgemäss, leiblich. In der Physiologie der Ästhetika, nach der der spätere Nietzsche auf der Suche ist, spielt der Rausch dementsprechend eine bedeutende Rolle: "Damit es Kunst gibt...dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch"(6.166). Eher als dieses Leben und nicht das Leben im Rausch verstanden wird, klingt oder leuchtet sein dissonanter beziehungsweise hässlicher Charakter in der Musik und in der Vorstellung auf. Durch die physische Auswirkung des Kunstwerks auf den Körper erfahren die Zuhörer und Zuschauer das 'Wesen' des 'Seins' am eigenen Leib. Diese 'experimentelle' oder wenn wir die Handlung des Helden zentral stellen: dramatische Funktion des Kunstwerkes erläuter Nietzsche mit einer ziemlich rätselhaften Bemerkung: "Wir brauchen dann ein die Welt als Kunstwerk, als Harmonie produzirendes Wesen, der Wille erzeugt dann gleichsam aus der Leere, der ((ví(, die Kunst als (ópos."(7.165) Dieses Wesen könnte, soweit es den Urwillen verkörpert, der geniale Künstler sein. In dieser Bejahung einander widerstrebener, heteronomer Lebenskräfte schafft er ein später als schön oder hässlich erfahrenes Kunstwerk. Der zweite Teil dieser Bemerkung ist rätselhafter. Beide griechischen Begriffe können wir nur verstehen, wenn wir Nietzsches Vorlesung von Platons Symposium, seine 'Lieblingsdichtung' [21] hinzuziehen. Es geht hier um einen Abschnitt, in dem die Seherin Diotima Sokrates über Eros' Geburt erzählt. Darauf dass nach Nietzsches Ansicht Eros das Begehren oder den Willen verkörpert brauche ich nicht einzugehen. Diotima betont in ihrer Erzählung, die Sokrates' Charakterisierung von Eros als einem Begehren, das nur infolge eines Mangels besteht folgt vor allem den Doppelcharakter dieses Dämons (((i(oviov): "Als nämlich Aphrodite geboren war, hielten die Götter einen Schmaus, und mit den anderen auch Poros (Erwerb, Betrieb/(ópos), der Sohn von Metis (Weisheit). Als sie aber gespeist hatten, da kam Penia (Armut/((ví() um sich etwas zu erbetteln, da es ja festlich herging, und stand an die Türe. Poros nun, begab sich, trunken vom Nektar den Wein gab es damals noch nicht , in den Garten des Zeus und schlief im schwerem Rausche ein. Da mag Penia ihrer Bedürftigkeit (((opi(v) wegen den Anschlag, ein Kind vom Poros zu bekommen: sie legt sich also zu ihm hin und empfing den Eros."[22] Beim Vergleich dieser Erzählung mit Nietzsches Wiedergabe fällt auf, dass er die Rollen von Vater und Kind vertauscht. ((ví( Armut oder hier Leere bleibt zwar als passives Element, als 'Materie' der Mutter, aber der ursprüngliche Vater, (ópos Überfluss und Vermögen wird nun das Kind: Eros. Als Liebe, Begehren und Wille fungiert dieser als Personifizierung der Kunst.[23] In der Armut oder Mittellosigkeit mit ihrem privativen Aspekt ((opi(v oder Unvermögen erkennen wir die Indifferenz als 'negativen Ursprung' der Kunst wieder. Nur durch das apollinische Aufhellen der dionysischen Kräfte kann des 'Wesen des Daseins', das heisst sein Überfluss erfahren werden. Ein anders Bedeutungselement von 'poros' verdeutlicht dies. 'Poros' bedeutet nämlich ausser Vermögen auch 'Mittel' und im abgeleiteten Sinn 'Zugang' oder 'Durchgang. Diese Verschiebung der Bedeutung entspringt der ökonomischen Bedeutung von 'Vermögen' als einem Überfluss an Existenzmitteln. So wird die Kunst ausser einem Vermögen als Kraft und Möglichkeit ein Mittel, ein Medium, das einen nicht diskursiven, erfahrungsmässigen oder experimentellen Zugang oder Durchgang zum Leben bietet. Begriffshistorisch betrachtet deutet 'poros' ausserdem auf einen Weg, was in dem von 'poros' abgeleiteten 'poreia', Reise oder Marsch noch stärker zum Ausdruck kommt. Wenn der Begriff unter dem Eindruck der christlichen Eschatologie im Neuen Testament die abstraktere Bedeutung von 'Lebenswandel' bekommt, bleibt dieser existentielle Aspekt erhalten.[24] Nun, Nietzsches Charakterisierung des poros scheint all diese Elemente zu enthalten: Überfluss, Vermögen, Mittel, Zugang und Weg. Kunst als poros ist also keine reine Abspiegelung oder Reflexion des Daseins. Es ist also keine Rede von einer Repräsentation dessen, was im Voraus gegeben ist. Die Selbstpräsentation des Kunstwerks gleicht vielmehr dem Weltgeschehen. Das Kunstwerk resoniert das Dasein "als eine Wiederholung des Urprozesses, aus dem die Welt entstanden ist".

2 II. Aporie als 'diskursiver' Kunstgriff

Nietzsche ist der Ansicht, dass ein begrifflicher Zugang zum Leben unmöglich ist. Das Denken selbst ist nämlich, in der Form dessen, was er erst negativkritisch den Willen zur Wahrheit und später positivbejahend oder schöpferisch[25] 'die Leidenschaft der Erkenntnis'(3.479) nennt, eine Funktion des mit sich selbst im Widerspruch verkehrenden Lebens oder des Willens zur Macht. Das Selbstbewusstsein kann dies nicht, wie zum Beispiel Hegel behauptet, umfassen oder übersehen. Solch ein Sprung über den eigenen Schatten führt zu einer Aporie. Diese Aporie kann nur mit einer 'Hinterwelt', mit einem alles umfassenden Prinzip, maskiert werden. Der Art des Denkens selbst entnehmen Systemdenker ein notwendiges Postulat, von dem aus die opposiotionelle Spannung und das damit einhergehende Leiden aufgehoben werden könnten. Nietzsche würde all diese 'Hinterwelten' Gott, Subjekt, Absoluter Geist und Mensch zertrümmern wollen, aber ihm entgeht dabei nicht, dass er all diese Scheinbewegungen des Lebens als Schein, als 'regulative Fiktionen'(11.505) oder als 'Worte' ernst nehmen muss. Nur dadurch, dass man sie in ihrer Oberflächlichkeit für wahr annimmt, entgeht man der Falle der Grammatik. Wenn diese genealogische Ansicht kritisch eingesetzt wird, scheint Philosophieren eine ästethische Dimension zu bekommen: wahr nemen und für wahr annehmen gehen ineinander über. Als 'Experimental Philosophie'(WzM, nr. 1041), bietet es auf ästhetische Weise Zugang zum Leben. Dies heisst aber, dass Nietzsche denken neu definieren muss als eine sich selbst spaltende, Widerstand und Widersinn erregende Aktivität, durch die der Wille zur Macht bejaht wird. Meiner Meinung nach 'inszeniert' er dazu den unvermeidlichen aporetischen Sprung vermittels einer parodierenden Taktik, dadurch dass er "etwa als Parodist(..) und der Weltgeschichte und Hans W(u)rst(.) Gottes" spricht(5.157). Er brüskiert hiermit das Bedürfnis an "Lösungen am Schluss". Dadurch dass er allerlei Widersprüche in Szene setzt und daran festhält, hetzt er das Denken gegen es selbst auf, das heisst gegen die Grammatik und den Zwang der Logik. In den Werken zwischen 1881 und 1887 zieht er aus seiner Auffassung über den sich selbst spaltenden Charakter des Dasein und die notwendige Ästhetisierung dieses Abgrundes die äussersten Konsequenzen. Die Kunst hat er bereits unter der Optik des Lebens betrachtet. Nun ist ein zweiter Schritt erforderlich: "die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn"(1.14). Er tut dies auf zwei Manieren: einerseits entwickelt er als methodische Grundlage seines Philosophierens den sich aus der Genealogie ergebenden Perspektivismus, anderseits entwirft er vermittels seines besonderen Stils ein experimentelles Denken, in dem der Leser als kennendes Subjekt ebenso, wie das beim Kunstwerk der Fall ist, aufs Spiel gesetzt wird und 'das Wesen der Dinge' erfahrungsmässig erlebt. Rhetorik, Logik und 'mystisches' Sprechen werden dazu aufeinander gepfropft. Mit diesem ersten Ansatz wird das 'wissenschaftliche' Statut seiner Schriften transformiert. Durch eine Genealogisierung von Begriffen wie 'wahr', 'schön', 'gut' und 'Wirklichkeit' ist Nietzsche zu der Erkenntnis gekommen, dass Wahrheiten verkappte moralische Imperative 'maskieren': jede Wahrheit entspringt einem Willen zur Wahrheit. Im bejahenden Sinn heisst dies, dass Kennen wieder zu einer schöpferischen Tat werden kann, bei der Wahrheit und Wirklichkeit eher gegründet als entdeckt werden. Die Zurückführung ihrer Wirksamkeit auf die Kunst stützt sich auf den Gedanken, dass der Vornehme, der den Dingen ihren Namen (und nicht: ihre Begriffe) gibt "Die Originalen sind zumeist auch die Namengeber gewesen"(3.517) durch seine werteschöpfende Tat und Überzeugungskraft den kollektiven Umgang mit den Dingen bestimmt. Dieser schöpferische Trieb erfordert aber "die eigentliche Lüge, die ächte resolute 'ehrliche' Lüge"(5.386). Davon war 'am Anfang' auch die Rede, aber im Laufe der Zeit hat man sie aktiv vergessen: die Bilder, die den Begriffen zugrunde liegen "(dünken) nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch, verbindlich"(1.880-1). Begriffsbildung ist nur durch 'aktives Vergessen' der 'Anschauungsmetaphern' möglich(1.879). Der zweite Ansatz ist undurchsichtiger. Er besteht daraus, in dem Medium der Sprache die Wirkung desjenigen zu beschreiben, was es suggeriert den Willen zur Macht mit seinen spaltenden und Widerstand erregenden Wirkungen experimentell heraufzubeschwören: das lesende Subjekt empfindet diese durch die Durchdenkung von Nietzsches Widersprüchen und Aporien am eigenen Leib. Es erfährt diese und leidet darunter, so lange es die Darlegung rational im Griff behalten will. Gerade durch dieses aus der Fassung bringen bietet Nietzsches aporetische Sprache ebenso wie die Kunst ein 'Poros', einen nicht diskursiven Zugang zum Sein. Durch eine Verflechtung von Stilfiguren und logischen Verzerrungen wird bei dem Leser eine Erfahrung vom Urgrund des Daseins wachgerufen.

1. Rhetorik und Logik: das Ding als Fiktion

Eine notwendige Bedingung hierfür ist Einsicht in die Machtwirkungen der Sprache. Als Philologe hat der junge Nietzsche Interesse für die Rhetorik in der Antike. Volkmans Die Rhetorik der Griechen und Römer und Gerbers Die Sprache als Kunst bringen ihn auf die Spur des rhetorischen Wesens des Argumentierens. Der als Philosoph vollkommen autodidaktisch gebildete Nietzsche richtet sich, vor allem durch diesen philologischen Hintergrund, in den durch ihn studierten Werken vor allem auf die rhetorischen und ästhetischen Aspekte philosophischer Theorien.[26] In der Vorlesung über Rhetorik im Winter 1872 wird demonstriert, dass Musik, Rhythmus und Sprache auf eine derartige Art und Weise miteinander verwandt sind, dass es für jeden rhetorischen ein Analogon Satz in der Musik gibt. Rhythmus wird die physiologische Komponente der Sprache und "den Nutzen jener elementaren Überwältigung"(3.440), die den Menschen zum tanzen bringt. Durch diese physische Auswirkung übt Rhetorik Macht aus. Dies erklärt, warum als "ein Spiel auf der Grenze des Ästhetischen und Moralischen" aufgefasst wird.[27] Nach 1875 wird die Rhetorik nur noch selten erwähnt. Dies weist aber meines Erachtens nicht so sehr auf eine Veränderung in Nietzsches Standpunkt als auf die Selbstverständlichkeit der erworbenen Einsicht: diese wirkt nun in allen anderen Gedanken durch. Ihr kenntheoretisches Pendant liegt darin, dass Begriffe die Dinge nicht ausdrücken oder repräsentieren, oder wie es in einer Kritik an Kants instrumenteller Sprachauffassung in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne heisst: "(D)as 'Ding an sich ' (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswert"(1.879). Ganz in Übereinstimmung mit seiner Neudefinition der Wahrheit als "ein bewegliches Meer von Metaphern, Metonymien, Antropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden"(1.880-1) und mit seiner Feststellung, dass "Abstraktionen Metonymien sind, d.h. Vertauschungen von Ursache und Wirkung", dass also "jeder Begriff eine Metonymie ist"(7.481) kommt Nietzsche zu der Schlussfolgerung, dass Kant "...nur die Relationen der Dinge zu den Menschen (bezeichnet) und zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe (nimmet)"(1.879). Damit entkommt Kant ebenfalls nicht "jene(m) Trieb zur Metapherbildung, jene(m) Fundamentaltrieb"(1.887). Wenn nach dessen Ansicht die Wahrheit schon da ist, dann ist sie entweder unerreichbar, weil sie ohne Folgen ist, aus denen wir sie ableiten könnten, oder sie ist nur aus unserem sprachlichen Umgang mit ihr denkbar, nie kennbar. Diese Einsicht radikalisiert Nietzsche. Wenn Rhetorik und 'Überwältigung' das Wesen der Sprache sind und das vernünftige Argumentieren die sokratische Dialektik ihren Ursprung in dieser rhetorischen Sprache hat, dann muss das heutige Primat des vernünftigen Arguments vor der rhetorischen Verführung die Folge des aktiven Vergessen seiner Herkunft sein. "Alle rhetorischen Figuren sind logische Fehlschlüsse. Damit fängt die Vernunft an"(7.486). Wenn dann die westliche Philosophie und Wissenschaft sich diese argumentierende Sprache zueignen, sich mit anderen Worten in deren vergessener Metaphorik einnesteln, müssen sie immer wieder eine Logik reproduzieren, die diesen Schein bestätigt. Bei der Beantwortung der Frage der 'Herkunft der Logik' (3.471) in Die fröhliche Wissenschaft beleuchtet Nietzsche aufs neue die physiologische Grundlage der Logik: "Wer zum Beispiel das 'Gleiche' nicht oft genug aufzufinden wusste, in Betref der Nahrung oder in Betref der ihmfeindlichen Thiere (...) hatte geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als Der, welcher bei allem Ähnlichen sofort auf Gleichheit rieth. Der überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang denn es gibt an sich nichts Gleiches hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen (...). Wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab"(3.471/2). Diese fast biologistische Reduktion bekommt eine philosophischere Übersetzung, wenn an anderer Stelle über Aristoles' 'Prinzip des Widerspruches' als Grundlage jeder Beweisführung gesprochen wird, gegen das Nietzsche sofort seine 'methodisches Misstrauen' einsetzt, das der schein heiligen Vorläufigkeit von Descartes methodischem Zweifel völlig fehlt. Nur die vermeinte Eindeutigkeit und Evidenz logischer Prinzipien fordert, dass "man um so strenger erwägen muss, was er im Grunde schon voraussetzt"(Wb, 85). "Gesetzt, es gäbe ein solches sich selbstidentisches A gar nicht, wie es jeder Satz der Logik (...) voraussetzt, das A wäre bereits eine Scheinbarkeit, so hätte die Logik eine bloss scheinbare Welt. (...) Das 'Ding' das ist das eigentliche Substrat zu A; unser Glaube an Dinge ist die Voraussetzung für den Glauben an die Logik. Das A der Logik ist wie das Atom eine Nachkonstruktion des 'Dinges'... Indem wir das nicht begreifen und aus der Logik ein Kriterium des wahren Seins machen, sind wir bereits auf dem Wege, alle jene Hypostasen: Substanz, Prädikat, Objekt, Subjekt, Aktion u.s.w. als Realitäten zu setzen: das heisst eine physische Welt zu konzipieren, das heisst eine 'wahre Welt' (dies ist aber die scheinbare Welt noch einmal...)" (Wb, 85,86). Logik ist bereits eine Scheinbewegung des Lebens selbst: "(D)as Muster einer vollständigen Fiktion ist die Logik" (11.505). Die 'metaphysische Illusion', die die Tragödie wachruft, scheint auch der durch die Logik abgestützten Welt zugrunde zu liegen. Logik mit '(dem) begrifflichen Widerspruchsverbot' stützt sich in einer doppelten Scheinbewegung auf den Glauben, dass es 'Dinge' gibt und darauf dass diese mit Begriffen nicht nur beschrieben, sondern sogar begriffen werden können: aber "die Logik gilt nur von fingierten Wesenheiten, die wir geschaffen haben"(Wb, 86). Die Idee, dass es 'Dinge' gibt, die den Worten zugrunde liegen, ist reine 'Fiktion': "Hier ist immer subintelligirt, das etwas, hierbei wird, sei es nun in der Fiktion eines Klümpchen Atoms, oder selbst von dessen Abstraktion, dem dynamischen Atom, immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt, d.h. wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten"(13.258). Was bleibt dann noch übrig, wenn alle Begriffe nur noch in Worte gefasste Bilder sind, die uns unwillkürlich zu Verallgemeinerungen verführen? Die Lehre der Bewegung, schlussfolgert Nietzsche, ist von Anfang an "eine blosse Semiotik und nichts Reales". Die Mechanik scheint nichts als eine 'Bilderrede'(13.260). Trotzdem bleibt dieser apollinische Schein unvermeidlich. Der Mensch ist nun einmal ein selbstbewusster Schlafwandler: "das Bewusstsein, dass ich eben träume, und dass ich weiterträumen muss, um nicht zugrunde zu gehen"(3.417). Im Gegensatz zu ihren hochtrabenden Ansprüchen erklärt die Logik das Leben genausowenig wie die Kunst: auch sie macht dessen Spannung höchstens erträglich. So verstanden scheint ihr Basisprinzip nicht die Identität, sondern der Widerspruch zu sein. Nietzsches negativ kritischer Ansatz hinsichtlich der Logik wird affirmativ kreativ sobald er sie in Analogie mit der Rhetorik, als eine Scheinbewegung auffasst, die Macht ausübt. Sein affirmativer Ansatz gibt ihm ein, dass "es der Gegensätze (bedarf), der Widerstände, also, relativ, der Übergreifenden Einheiten..." (13.260). Doch schiebt er strategisch hin und her und verändert er aus strategischen Erwägungen immer wieder seine Position. Sobald er zum Beispiel seine Kritik gegen die Logiker und Metaphysiker richtet, weist er daraufhin dass "es keine Gegensätze (giebt): nur von denen der Logik her haben wir den Begriff des Gegensatzes und von da aus fälschlich in die Dinge übertragen" (WzM, nr. 56).[28] Was unsichtbar 'hinter' "jene(m) ungeheure(n) Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet" (1.888) den Blick bestimmt, wird in seinen frühen Schriften noch 'Intuitionen' genannt. Im Anschluss an den dionysischen Rausch der Mysterienriten qualifiziert er diese in späteren Aufzeichnungen in den Worten der Mystik: "Eigentlicher Zweck alles Philosophirens (ist) die intuitio mystica"(11.232) bemerkt er kurz nach einer früheren Aufzeichnung "Kant überwunden". Dass trotzdem das Gebiet der Sprache nicht verlassen wird wohl daraus deutlich, dass Nietzsche an dem Appell an eine gewisse 'Vernünftigkeit' festhält: "das neue MachtGefühl: der mystische Zustand und die hellste kühnste Vernünftigkeit als ein Weg dahin" (11.211). In 'Vernünftigkeit' klingt aber mehr mit als Vernunft: der Begriff het auch etwas Strategisches an sich, das in dem Wort Klugheit besser zum Ausdruck kommt. Falls die mystische Intuition schon eine Rolle spielt, dann nur als eine neue Fiktion am Ende eines Weges der nie der nie zu Ende gegangen werden kann. Dieser Weg ist und bleibt für Nietzsche die Sprache.

2. Aphorismus, Ironie und Parodie

"Wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns unsere Sinne und Sprache verleiten". Nietzsche öffnet eine Grossoffensive gegen die metaphysischen Illusionen dadurch, dass er die Sprache gegen sie selbst ausspielt. Während der junge Nietzsche[29] noch meint, dass "Sprechen und Schreibenkönnen freiwerden heisst"(7.834), wird ihm langsam aber sicher deutlich, dass die selbstspaltende Spannung des Daseins nur durch eine stilistische Bearbeitung der Sprache in den Beschreibungen mitklingen of resonieren kann. Die metaphysische Illusion der Grammatik muss von innen her abgebaut werden. Dies tut er durch eine zunehmende Verflechtung von Form und Inhalt in aphoristisch stilierten Texten. Nietzsches Aufmerksamkeit für die Rhetorik wies bereits in die Richtung einer Zersetzung des Gegensatzes zwischen Form und Inhalt. Diese Zersetzung wird in seinem Schreibstil[30] definitiv durchgeführt. Obwohl Stil das Schlüsselwort ist, wird er keineswegs zum Ziel an sich, denn dann, meint Nietzsche in Ecce Homo, würde er dessen beraubt, worum es Nietzsche geht: "Einen Zustand, eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen, eingerechnet das Tempo dieser Zeichen, mitzutheilen das ist der Sinn jedes Stils"(6.304). Im Mit Teilen wiegt neben dem Aspekt des Beschreibens möglicherweise die Erfahrung des Teil Habens an oder des Zusammen Teilens von 'einer innerlichen Spannung und einem Pathos' vermittels der Sprache gleich schwer. Im 'Mit Teilen', das sowohl aktiv wie passiv aufgefasst werden kann und deshalb ein geeigneter medialer Begriff für die Zersetzung der Opposition ist, kommt wieder einmal die spaltende Wirkung des Willen zur Geltung. Nietzsches Erklärung ist unzweideutig: 'Spannung' und 'Pathos' verweisen zwar beide auf aussersprachliche 'Erfahrung', aber diese präsentiert sich notwendigerweise in einem und als ein Widerspruch in der Sprache. Die fortgesetzte Spaltung und die damit verbundene Selbstverdopplung kehrt in den Texten in verschiedenen Gestalten wieder: als Aphorismus und in der Ironie und Parodie. Auf Nietzsches Kritik an jedem totalitären System anspielend nimmt Löwith in dessen aphoristischem Stil einen "guten Willen zu offenen Horizonten"[31] wahr.[32] Er versteht Nietzsches Werk als ein "System von Aphorismen"[33], das von dem 'grundsätzlichen Experimentalcharakter seines Philosophierens' zeugt. Der Aphorismus als stilistisches Mittel eignet sich nämlich ausgezeichnet für fortwährende Veränderungen der Perspektive, mit anderen Worten: für Selbstspaltungen, wodurch ein eindeutiger Standpunkt fortwährend fragmentiert wird. Inhalt und Form sind durch die im allgemeinen metaphorisch geladene Kompaktheit des Aphorismus so verflochten, dass seine Wirksamkeit von dieser Opposition her kaum erklärlich ist. Seine eindringliche Wirkung liegt vor allem in dem Wechsel der Perspektiven. Für Nietzsche bedeutet dies, dass ein Aphorismus "damit, dass er abgelesen ist, noch nicht 'entziffert' (ist)"(5.255). Dafür ist die 'Kunst der Auslegung' nötig. Wir müssen den Aphorismus immer wieder wie eine Kuh wiederkäuen. Eine eindeutige Auslegung, falls es die überhaupt gibt, wird durch den zweiten selbstspaltenden Ansatz erschwert: durch Nietzsches Ironie.[34] So bezieht hat Nietzsches Alter Ego Zarathustra eine "naivironische Stellung zu allen heiligen Dingen"(12.150). Dessen Selbstspott bedeutet "schadenfroh sein, aber mit gutem Gewissen"(3.506). Ironie ist, soweit sie selbstspaltend oder vernichtend ist, die literarische Variante der Genealogie. Ihre Kritik trifft immer auch auf sie selbst zu: es ist, in Habermas' Worten, eine Kritik, die bewusst "die Wurzeln der Kritik selbst angreift". Durch die Einbettung der literarischen Ironie in die Genealogie bekommt die erste einen methodischen Charakter. Als solche kann man Nietzsches Ironie besser mit dem Begriff 'überironisch' charakterisieren.[35] Dass es gegensätzliche Einschätzungen der Ironie gibt, kann man auch jetzt wieder auf Nietzsches doppelte Position zurückführen, die er angesichts des Charakters der Genealogie und seiner Polemik mit der Wissenschaft einnimmt. Er bewertet die Ironie als kritisches Instrument positiv, aber als reaktive Haltung negativ. Letzten Endes erfordert diese Ironie ein eigenes stilistisches Verfahren: die Parodie.[36] Eingebettet in die Ironie bietet diese Form Nietzsche die Möglichkeit, sich innerhalb der metaphysischen Gegensätze zu bewegen, ohne in sie zurückzufallen. "Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unserer Erfindung noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, vielleicht dass, wenn auch nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat!"(5.157). Diesem Parodiebegriff liegt der von Cicero übernommene Terminus 'dissimulation' zugrunde. Dass Nietzsche diesen nicht mit 'Ironie', sondern mit 'Maske' übersetzt, ist vielsagend. Parodie ist für ihn nämlich nur ein grosses Maskenspiel, hinter dem sich kein wahres Antlitz verbirgt. Sie besteht aus einer Vielfalt von Scheinbewegungen, denen kein definitives Sein entspricht. Von einem 'demaskieren' im essentialistischen Sinn kann bei Nietzsche also keine Rede sein. Das Verhältnis zwischen Ironie und Parodie kommt vielleicht auf exemplarische Weise in Die fröhliche Wissenschaft zum Ausdruck. Während im ersten Aphorismus noch behauptet wird, dass wir von der Ironie genesen müssen, endet das Gedicht, mit dem das Buch beginnt mit der Regel: "Und lachte noch jeden Meister aus, der nicht sich selber ausgelacht"(3.343), und das Ende des ersten Paragraph der Vorrede lautet: "Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an: Incipit parodia; es ist kein Zweifel..."(3.346). In Die fröhliche Wissenschaft, wo anstelle der Eigenschaft 'fröhlich' ebenso gut 'tragisch' gelesen werden kann, wird eine Vision auf ein anderes Wissen geschildert, auf ein Wissen, das seine physiologische Grundlage bejaht, das heisst das weiss, dass es an seinem eigenen Willen zur Wahrheit zugrunde gehen muss. Das Wissen wird immer erlebt. Der parodierende Ton mit seinen vielen ironischen Wendungen appelliert darum implizit an ein Erlebnis.[37] Nietzsche sieht die Kenntnis, ganz in Übereinstimmung mit der 'tragischen' Weltanschauung', in der "sich Wahrheits und Weisheitstrieb versöhnt hatte"(Wb, 797), vor dem Hintergrund einer un(be)greifbaren Totalerfahrung. Aber sobald diese durch den modernen Menschen zur Sprache gebracht wird, geschieht das unvermeidlich in Begriffen metaphysischer Gegensätze, wodurch nur von einer Umkehrung die Rede zu sein scheint. Hierauf scheint Nietzsche am Ende der Fröhlichen Wissenschaft anzuspielen, wenn er den Übermenschen vor sich sieht: "Das Ideal eines menschlich übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich neben den ganzen bisherigen Erden Ernst, neben alle Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste, unfreiwillige Parodie hinstellt und mit dem trotzalledem, vielleicht der grosse Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie beginnt..." (3.637). Die Zersetzung der Gegensätze und die Entkräftung der Negation von einem indifferenten Punkt aus tritt hier in einer ganz neuen Gestalt auf. Der Übermensch als Parodie des Menschen ist mehr als dessen Verneinung selbst wenn der Mensch ihn nur als seine Negation denken kann. Die Parodie, die diese Verneinung zersetzt, zielt auf etwas äusserst 'Leibhaftes': auf die Verkörperung '(der) grossen Gesundheit'. Sie kann allerdings nur 'unfreiwillig' sein, weil sie durch die beschränkte moral psychologische Optik des christlichen Menschen als ein Idealtyp erscheint. Obwohl der Übermensch keine Parodie im üblichen Sinn des Wortes ist, verhindert das keineswegs, dass er innerhalb der westlichen Beweisführung als solche erscheint. Worauf Nietzsche mit dieser 'Figur' abzielt, ist vielleicht gerade eine Totalerfahrung und eine undenkbare Tatkraft, von der er meint, dass sie jedem Wert zugrunde liegen müsse. Zusammen mit den beiden anderen 'abgründlichen' Gedanken dem Willen zur Macht und der Ewigen Wiederkehr des Gleichen scheint er traditionelle Schemata zu parodieren: "Denn nur im parodischen Gebrauch sind die Schemanetze zu überwinden, mit denen die konventionelle Sprache jedes Denken und Erfahren der wirklichkeit einfängt und verallgemeinert".[38] Dass die Parodie sich von der Aporie und von Widersprüchen nährt wird wohl daraus deutlich, dass, wie ich bereits am Anfang erwähnte, in und zwischen den Gedanken allerlei logische Spannungen herrschen. Denn wie kann der Mensch etwas denken, das grösser ist als er selbst, ohne an diesem Gedanken zugrundezugehen? Und wie kann von der metaphysischen Tradition aus ein Gedanke durchdacht werden, in dem Werden (der Wiederkehr) und dem Sein (dem Ewigen), zwei einander per Definition ausschliessende Prinzipien, zusammengefügt werden? Zum Schluss: wie kann ein Wille gedacht werden, der keinen Wert im Voraus feststellt der also keinen eindeutigen Anfang kennt , der aber trotzdem auf Macht, das heisst auf den Fortbestand gegebener Werte aus ist?[39] Ironie und Parodie bilden den Kern der durch Nietzsche vertretenen 'fröhlichen Wissenschaft', in der die Logik mit ihrem Prinzip des Widerspruchs zersetzt wird. Eine neue Art von Kenntnis kommt zur Geltung, die weder kritisch noch dialektisch, sondern tragisch ist: "Wissen ohne Mass und Grenze" (7.161). "Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihrer Grenze, an der ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert"(1.101). In einer fröhlichen Wissenschaft voller Widersprüche und Aporien geht die Logik unter. Mit dem Sinnbild der Unendlichkeit vor Augen "Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst" transformiert Nietzsche Wahrheit zu Weisheit dadurch, dass er sie ständig gegen einen Erfahrungshorizont ein 'Erlebnis' hält. Aber die 'Leidenschaft der Erkenntnis', das Schöpferisch Bejahende des Willens zur Wahrheit würde zu unerträglichen Erkenntnissen führen, wenn es die Kunst nicht gäbe: "Da bricht die neue Form der Erkenntnis durch, die tragische Erkenntnis, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht"(1.101). Nur diese Forme des genealogischen Wissens ist nach Nietzsches Ansicht eine Logik, eine 'grosse Logik': "(L)a gaya scienza; die leichten Füsse; Witz, Feuer, Anmut; die grosse Logik; der Tanz der Sterne..."(6.37). Nur die 'Logik' des fröhlichen oder tragischen Wissens, innerhalb derer die Aporie ihre spaltende, aber schöpferische Wirkung ausübt, bietet einen Zugang zum Sein: "Wenn der Widerspruch das Wahrhafte Sein, die Lust der Schein ist, wenn das Werden zum Schein gehört so heisst die Welt in ihrer Tiefe verstehen den Widerspruch verstehen. Dann sind wir das Sein müssen aus uns den Schein erzeugen. Die tragische Erkenntnis als Mutter der Kunst"(7.204; fettgedruckt ho). Mit anderen Worten: tragische Kenntnis als penia, als Resonanz der Indifferenz, als aporeia.

3. Aporie: Räsonieren und resonieren, Denken als Erfahrung

Der Widerspruch oder die Aporie blockiert das logische Denken und öffnet gleichzeitig auf experimentelle Weise einen Zugang zum Leben. Die Aporie erweckt in dem Denken selbst Widerstand, wodurch der Erkenntnisprozess erst festläuft, um daraufhin seine physiologische Grundlage in der Extase, in dem aus sich selbst Heraustreten, zu offenbaren. Nietzsche definiert die Philosophie aus seiner Einsicht in die ästhetische Legitimation der Welt neu. Wie bereits gesagt hat das metaphysische Denken die Aporie höchstens als heuristisches Moment, das immer überwunden werden musste, geschätzt. Der Widerspruch als logische Grundform der Aporie ist seit Beginn der westlichen Metaphysik ein Stein des Anstosses gewesen. So dichtet Aristoteles in seiner Aporetik dem Denker die Aufgabe zu, die am nächsten liegenden Ziele auf dem Weg der Erkenntnis sichtbar zu machen. In Metaphysica B heisst 'aporiai' noch ganz einfach 'Problem' oder 'Schwierigkeit'. Die Aufgabe des Philosophen ist es, diese 'Aporien' zu durchdenken, damit er im Laufe seiner Forschung nicht auf unerwartete Blockaden stösst. Wenn er diese 'aporai' übersieht, wird er auf die Dauer unwiderruflich in strittige Schlussfolgerungen verfallen: "Man muß derhalb erst alle Schwierigkeiten (aporiai) in Betracht gezogen haben einerseits aus den schon angeführten Gründen, dann aber auch deshalb, weil ein Suchender, der sich nicht mit der Problematik der Dinge beschäftigt hat, einem Wanderer gleicht, der nicht weiß, wohin er gehen soll."[40] Gleich darauf verbindet Aristoteles dies mit der logischen Tatsache "daß alles entweder zu bejahen oder zu verneinen ist, oder daß alles unvermögend ist, gleichzeitig zu sein und nicht zu sein und was es sonst noch an derartigen Prämissen gibt"[41]. Hier machen sich das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten und das Prinzip des Widerspruchs geltend.[42] Diese werden durch Aristoteles aber noch nicht im Kontext der späteren Legitimierung von Kenntnis verstanden. Erst wenn das Selbstbewusstsein und die Vernunft bei Kant Motor und Zentrum der Sinngebung und selbst des Steuerungsmechanismus der Geschichte das autonome Subjekt werden, erst dann kann die Frage nach einer Begründungsinstanz so gestellt werden, dass sich die Aporie sozusagen von selbst aus dem Denkprozess heraus anbietet. Wenn wir den Begriff 'Aporie' noch ausschliesslich als philosophische Kategorie gebrauchen, in der das Unvermögen eine philosphische Frage zu lösen zum Ausdruck kommt, so betraf es ursprünglich, bevor der Begriff zu Platons Zeiten in die Philosophie einging, den Begriff, mit dem in der alltäglichen Sprache eine Erfahrung von Aussichtslosigkeit oder Unfrieden ausgedrückt wurde. Nietzsche scheint auf diese griechische, vor philosophische Bedeutung zurückzugreifen. Diese betrifft eine Situation, in der man den Weg verloren hat oder von der Güterverteilung ausgeschlossen ist, also keine 'Existenz'mittel mehr hat. Der privative Ausdruck aporia weist ausserdem auf das Fehlen einer 'poreia: einer Wanderung, eines Fortschritts, einer Reise oder eines Marsches. Man ist vom richtigen Weg abgekommen und hat das Richtungsgefühl verloren. Es ist diese Erschütterung oder Richtungslosigkeit, der bei Kant das Denken in der Form eines unlösbaren, sich selbst generierenden Widerspruchs oder einer Antinomie ausgeliefert wird. Im Anschluss an diese 'dramatische' Erfahrung entwickelt sich nach und nach 'eine spezifische philosophische Selbsterfahrung', in der die selbstverständliche Übereinstimmung zwischen Denken und Handeln problematisiert wird. Denken und Tun, Theorie und Praxis stimmen, wie den vorsokratischen Denkern klar wird, nicht ohne weiteres überein. Philosophische Einsicht in die wahre Art der Dinge präsentiert sich nun als eine erneute Übereinstimmung zwischen beiden. Erst in der 'Beoder Anschauung' kann die Aporie, in der der Abstand zwischen Denken und Tun ausdrückt wird, aufgehoben werden: so muss zum Beispiel Sokrates' Einsicht in den Charakter der Ideen notwendigerweise ein tugendhaftes Leben nach sich ziehen. Es ist diese Distanz zwischen Denken und Tun, durch Löwith als existentieller Grundkonflikt beschrieben, die bei Nietzsche, sei es im affirmativen Sinn, wiederkehrt.

4. Unbeabsichtigt mystisch oder bewusst mystifizierend

Aber ist Nietzsches Versuch, eine Totalitätserfahrung heraufzubeschwören nicht eine Variante der Via negativa der Mystik? Es stimmt, dass Nietzsche durch eine aporetische Komposition seiner abgründlichen Gedanken deren Objektivität problematisiert und seinen nach Zusammenhang strebenden Leser einer verwirrenden Erfahrung ausliefert. Ausserdem ist es überdeutlich, dass die Art, in der er das tut, viele Ähnlichkeiten mit der 'Methode' der Mystiker aufweist: "Möchte man nicht heute in Hinsicht der Moral sagen, wie Meister Eckhardt: 'ich bitte Gott, dass er mich quitt mache Gottes'"(3.535). Beim intensiven Lesen von Nietzsches Werk drängt sich unwillkürlich das Vermuten auf, dass er sicher bei dem Gedanken der Ewigen Wiederkehr die Variante einer mystischen Erfahrung im Auge hat.[43] Denn auch die Mystik versucht die Totalitätserfahrung indirekt durch paradoxale Formulierungen mitzuteilen.[44] Nietzsches Bemerkung über den notwendigen Zusammenhang zwischen Logik und Mystik, die durch Collis Beobachtungen unterstützt wird, bestätigt dies Vermuten. Er meint nämlich, dass die 'tragische Weltanschauung', in der Wahrheits und Weisheitstrieb zusammengingen, durch 'die logische Entwicklung' aufgelöst ist und "zwang zur Schöpfung der mystischen Weltanschauung"(Wb, 797). Logik und Mystik sind für Nietzsche anscheinend zwei Seiten ein und derselben Medaille. Kritik der Logik betrifft dann auch indirekt die Anmassung der Mystik, die Sprache übertreffen zu wollen. Im ganzen Werk finden wir zahlreiche Bemerkungen über die Mystik zurück. Es gibt dort natürlich Passagen, in denen negativ kritisch eine 'erreichte unio mystica'(5.381) als "das hypnotische Nichts Gefühl, die Ruhe des tiefen Schlafes, Leidlosigkeit kurzum"(5.382) abgetan wird. Diese Bemerkung suggeriert, dass Nietzsche manchmal die unio mystica der penia der anfangs noch als privative Leere gethematisierten Indifferenz gleichstellt, eine Ansicht, die er später als metaphysisch verwirft. Aber im Frühjahr 1884 erläutert er das Verhältnis zwischen Musik, Denken und Musik im posisitiven Sinn: "Die Musik als Nachklang von Zuständen, deren begrifflicher Ausdruck Mystik war Verklärungs Gefühl des Einzelnen, Transfiguration". Die Zufügung "Oder: die Versöhnung der inneren Gegensätze zu etwas Neuem, Geburt des Dritten"(11.75)) lässt sich nur dialektisch deuten, wenn wir alle anderen Elemente, die auf einen 'Zustand' oder ein Pathos und nicht auf eine begriffliche Aufhebung hinweisen, verwahrlosen. Es stimmt also ohne weiteres, dass Nietzsches Sprach und Bildgebrauch in hohem Mass der Mystik entliehen ist. Vor allem in Also sprach Zarathustra nimmt der Gebrauch von stilistischen Prozeduren des mystischen Sprechens zu. Giorgio Colli weist in seinen Nachworten zu den verschiedenen Texten aus der Entstehungszeit von Also sprach Zarathustra immer wieder auf diese mystische Tendenz hin, aber er bemerkt meines Erachtens zurecht, dass "die dionysische Unmittelbarkeit (...) nicht notwendig auf eine unzugängliche mystische Erfahrung anspielt"(4.414). Diese dionysische Unmittelbarkeit unterscheidet sich von demjenigen, worauf die Mystiker, deren Sprechen sich "um eine einzige, unbeschreibliche Erfahrung" dreht, als "eine fundamentale Ekstase" zielen. Auch Löwith betont in seiner Besprechung von der Ewigen Wiederkehr, dass "eine mitteilbare philosophische Lehre sich nicht mit dem blossen Hinweis auf eine ekstatische Vision oder einen Entwurf kann begnügen"[45]. Bei der Behandlung der hinterlassenen Fragmenten dieser Periode weiht Colli diesem mystischen Hintergrund einen ausführlichen Kommentar: "Es ist daher wahrscheinlich, dass das antisystematische polemische Motiv in dieser Periode noch nicht den üblichen skeptischen, sondern einen mystischen Hintergrund besitzt" (11.719). Nietzsches Ansatz unterscheidet sich trotzdem fundamental von dem der Mystiker. Der durch ihn selbst in seinen Aufzeichnungen gebrauchte Gegensatz 'esoterisch exoterisch'(12.187) bestätigt dies. In einer kurzen Notiz scheint er Kants Antinomien zu parodieren: "1. alles ist Wille gegen Willen/2. Es giebt gar keinen Willen. 1. Causalismus/2. Es giebt nicht wie Ursache-Wirkung." (12.187). Nach Collis Ansicht fällt Nietzsche mit dieser antinomischen Komposition "auf die antike Unterscheidung zwischen gemeinverständlicher Mitteilung und mystischer Ausdrucksweise"(13.651) zurück. Wenn dies bedeutet, dass er den Widerspuch zum Ausdrucksmittel schlechthin macht, scheint mir das eine richtige Schlussfolgerung. Wenn Colli zum Schluss bemerkt, dass der Wille zur Macht "nichts anderes ist als der esoterische Ausdruck seines Denkens"(13.653), würde ich dem hinzufügen wollen, dass Nietzsches Denken gleichzeitig eine Gestalt dieses 'beschriebenen' Willens zur Macht ist. Nietzsche fährt fort, sich innerhalb der Sprache zu bewegen. Im Gegensatz zu den Mystikern verwirft er jede ontologische Extrapolation. Sprache, das heisst philosophisches Schreiben und Lesen werden bei ihm zu einer souveränen Erfahrung, die um ihrer selbst willen aufgesucht wird. Meiner Meinung nach schöpft Nietzsche gerade aus dieser fast unnachahmlichen Verflechtung von Inhalt und Form nicht so sehr Wahrheit als die Überzeugungskraft, durch die und von der die Philosophen bis auf den heutigen Tag aufgerührt werden.


[1] Schon in einer der frühsten Studien über Nietzsches Werk und zwar von Theodor Lessing (Nietzsche. 1925) hiess es: "Wir werden im folgenden sehen, dass diese beiden in Nietzsches Geist miteinander ringenden Gedanken, der ethische und der kosmische, unvereinbar blieben, und dass an ihrem Gegensatz und Widerspruch Nietzsches Denken zerbrach" (Nietzsche. Matthes & Seitz, München 1985, 73-74).

[2] Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1986, 14.

[3] Für Zitate aus Nietzsches eigenem Werk verweise ich so viel wie möglich auf die durch Giorgio Colli und Mazzino Montinari bearbeitete Ausgabe: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Studienausgabe. 15 Bände, Verlag de Gruyter, Berlin/ New York, 1967. Zitate aus Nietzsches Briefen (De Gruyter Verlag Berlin/New York 11957-1984) werden mit einem B. und der Nummer Des Teils und der betreffenden Seite angedeutet. Aber manchmal wird auf den durch Würzbach ausgewählten Nachlass (Wb) und auf die Falsifikation Der Wille zur Macht (WzM) verwiesen.

[4] Lessing versuchte es. Wolfgang Müller Lauter verschafft in der kurzen Einleitung zu Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie (Walter de Gruyter, Berlin/New York 1971) eine Übersicht der Denker, die versucht haben auf die eine oder andere Weise mit Nietzsches 'Widersprüchlichkeit' abzurechnen.

[5] Den durch Müller Lauter erwähnten Studien müsste man die Texte von Gerd Kimmerle, Die Aporie der Wahrheit (Tübingen 1983) und Jürgen Habermas, "Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe" in: Der philosophische Diskurs der Moderne (Frankfurt a/M, 1985. 104-129) hinzufügen.

[6] Sieh Martin Heidegger, Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1976. Band 43. Nietzsche : Der Wille zur Macht als Kunst. Frankfurt a/M 1985, 36. Heidegger ist ausserdem der Meinung, dass Nietzsche als Übergang in der Destruktion des Alten bereits einen Ansatz zum Neuen macht.

[7] Einen Versuch, Heideggers Kritik zu entkräften finden wir bei Müller Lauter, 30ff.. Heidegger unterschätzt die Rolle der Sprache bei Nietzsche gründlich und zwar wahrscheinlich, weil er sich ausschliesslich mit dem Frühwerk und dem Nachlass beschäftigt. In "Heideggers Nihilismus: Nietzsche als Interpret Heideggers" (in: Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger. Walter Biemel, Friedrich Wilhelm von Hermann (Hrsg.), Vittorio Klostermann, Frankfurt a/M 1989) weiss der Heideggerianer Gianni Vattimo Nietzsches sprachstrategischen Einsatz wohl zu schätzen. Er meint sogar dass "eine gewisse Notwendigkeit besteht, Heidegger in seiner Nietzsche Interpretation zu 'verraten', wenn man seinen authentischen Absichten treu bleiben will" (143). Vattimo erkennt die explosive Kraft in Nietzsches Werk. Er erklärt den blinden Fleck bei Heidegger nicht nur aus der Verwahrlosung von Nietzsches mittleren Schriften, sondern äussert selbst den Gedanken, dass Heidegger vielleicht wohl das ängstliche Vermuten hatte, dass er dort ((...)) einen Nietzsche vorfinden könnte, der sein eigenes post metaphysisches Projekt, in dem "die Sprache das Haus des Daseins" werden sollte, nicht nur erahnt, sondern swogar bereits begonnen hatte. Luc Ferry weist seine Leser in Homo Aestheticus (Grasset, Paris 1990) ebenfalls auf diesen Aspekt hin. Ausserdem greift er, gleichfalls im kritischen Sinn, auf Heideggers Interpretation zurück. Seiner Meinung nach kann man wohl kaum leugnen, "que la pensée de Nietzsche soit déjà beaucoup plus proche de celle de Heidegger que ce dernier ne laisse entendre" (209).

[8] Sieh: Rudolf Reuber, Ästethische Lebensformen bei Nietzsche. Wilhelm Fink Verlag, München 1988, 44ff..

[9] Karl Löwith suggeriert dies, wenn er hinsichtlich der physiologischen und materialistischen Aspekte der Ewigen Wiederkehr bemerkt, dass "die dionysische Gleichheit (... sich auflöst) in das nihilistische 'Alles ist gleich' eines der Welt entfremdeten Daseins und in die positivistische Indifferenz einer dem Mensch entfremdeten Welt"(88).

[10] Die nicht oppositionelle Struktur des Dionysischen und des Apollinischen nimmt so ihre ersten Kontouren an. Colli meint in der Geburt der Philosophie (Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a/M 1981 (Milan 1975) aufgrund weiterer philologischer Forschung, dass absolut keinen Gegensatz zwischen Dionysos und Apollo besteht (74) und kritisiert Nietzsche aufgrund dessen. Mir scheint seine Kritik nicht ganz zurecht. Wenn schon nach einer Opposition gesucht werden muss, dann finden wir die eher in dem Gegensatz zwischen dem mit dem Apollinischen verquickten Dionysischen und dem sogenannt Sokratischen: "Das ist der neue Gegensatz: Das Dionysische und das Sokratische" (1.83). Im Unterschied zum Apollinischen, das die Zersetzung der Einheit und des Zusammenhanges, die es auferlegt hat, prinzipiell zulässt, schliesst das Sokratische mit Hilfe des dialektischen Argumentierens und der Logik jeden Verstoss aus. Es wendet sich gegen die Tragödie und damit gegen das als Widerspruch charakterisierte Leben. So usurpiert das Denken das Leben und wird das Sokratische zu einem tautologischen Ereignis.

[11] Im Gebrauch von Begriffen wie 'Wesen' und 'Sein' offenbart sich noch der Einfluss von Schopenhauers Ideen, die stark metaphysisch gefärbt sind. Nietzsche wird sich in späteren Texten, aber vor allem in dem Vorwort zur zweiten Ausgabe der Geburt der Tragödie (1886), von dieser Sucht nach 'Artistenmetaphysik' distanzieren (1.13).

[12] Das 'Pathos' verweist auf eine physiologische Sphäre. Es wird nicht mehr durch das Subjekt geschaffen, sondern dieses wird dem Pathos ausgeliefert. Dies heisst, dass das Subjekt immer unter dieser Spannung steht. Das kommt in dem griechischen ÒÓÕx-iv zum Ausdruck, das ausser 'erfahren' noch 'leiden', 'fühlen', 'in eine Stimmung kommen oder in einer Stimmung sein' und 'einen Eindruck bekommen oder eine Wahrnehmung machen' bedeutet. In einem abgeleiteten Sinn bedeutet 'paschein' ausserdem Begierde und Verlangen, was in Nietzsches Auffassung vom Willen ebenfalls durchklingt.

[13] Sieh Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Hamburg 1955, 22; Rudolf zur Lippe, Le corps et ses fictions. Paris 1982, 30.

[14] Jean François Lyotard weist in "Réécrire la modernité" (in L'inhumain. Galilée, Paris 1988) auf diese aporetische Spannung hin, 'ce leurre' bei Nietzsche, Marx und Freud: "On sait combien la réécriture ainsi comprise peut être trompeuse à son tour. Le leurre réside en ceci que l'enquête sur les origines du destin fait ellemême parti de ce destin" (36). Im Hinblick auf Nietzsche stimmt er Heideggers Kritik zu.

[15] Sieh Vorrede von Phänomenologie des Geistes (in: Werke. Band 3. Suhrkamp, Frankfurt a/M 1970, 61).

[16] Dieser Gedanke ist nicht so einzigartig. Auch Hegel weist am Ende von Wissenschaft der Logik darauf hin: "Wenn man sagt, dass der Widerspruch denkbar sei, so ist er vielmehr im Schmerz des Lebendigen sogar eine wirkliche Existenz" (II.481).

[17] Sieh G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik II. Theorie Werkausgabe, Suhrkamp, Frankfurt a/M 1969, 3580.

[18] Sieh Hegel, o.c. 445.

[19] Logischerweise kann man hier besser auf Schelling verweisen, als auf Kant, in dessen Werk dieser Begriff kaum vorkommt. Hegel und Schelling haben hierüber einen gemeinsamen Standpunkt, der in Hegels Differenz Schrift (1801/2) auseinandergesetzt wird. Sieh G.W.F. Hegel, Jenaer Kritische Schriften (I). Felix Meiner Verlag, Hamburg 1979), 94/5. Es ist aber wahrscheinlicher, dass Nietzsche Schelling indirekt oder aus zweiter Hand aus dessen Vorlesung von E. Hartmann perzipiert hat. Sieh dazu: Reuben, o.c., 59ff.. Sieh ausserdem zum Verhältnis zwischen Nietzsche und Schelling: Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue Mythologie. 1. Teil, Frankfurt a/M 1982, 344-347/332/352/Fussnote 6,30.

[20] Bei Nietzsche ist der 'Einzelne' ein Synomym für die merkwürdige Mischung des sokratischen Dämons und des kantischen Genies, das selbst "nicht weiss, wie sich in ihm die Ideen dazu herbei finden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmässig auszudenken" (B183/A1-81). Den Begriff des Dämons entnimmt er Platons Symposium, auf dem Sokrates, während er über den Charakter des Eros spricht, aus Diotimas Mund vernimmt, dass Eros weder Gott noch Mensch ist , sondern ein Dämon (ÙÓi(oviov) "das Mittelglied zwischen Gott und Mensch" (Symp. 202d). Dieser 'daimonion' kommt in der Apologie als ein 'Genius' zurück, dem Sokrates seine 'Eingebungen' verdankt.

[21] Sieh Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biografie. Band 1, DTV, München 1981, 121.

[22] Plato, Symposion. 203b,c (vet. ho). Vertaling van Franz Susemihl, in: Platon. Sämtliche Werke. Erster Band, Verlag Lambert Schneider, Berlin 19.., p. 700.

[23] Mit dieser Verwechslung kann es noch anders laufen. So taucht in Menschliches. Allzumenschliches I unter dem Titel 'Liebesheirathen' folgende Paraphrase davon auf: "Die Ehen, welche aus Liebe geschlossen werden (die sogenannten Liebesheirathen), haben den Irrthum zum Vater und die Not (das Bedürfnis) zur Mutter" (2.267). Poros wird nun 'Irrthum', während die Liebe/Eros wieder ein Produkt ist. Im zweiten Teil dieses Textes gibt es unter dem Titel 'Liebe' gleichfalls einen Hinweis (2.414). Das Begriffspaar Not Irrtum wird in den Aufzeichnungen des Frühjahrs 1877 wieder aufgenommen, in denen Platons Bevorzugung der Ideenwelt gegenüber der Sinnenwelt kritisiert wird: "Aber Noth als Mutter, Irrthum als Vater haben den Glauben geschaffen" (8.380). Ehen aus Liebe und Glauben an eine ideale Wirklichkeit werden aus der Ehe von Not und Liebe geboren. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, dann können allerlei Begriffe so wie das Cogito, das Subjekt oder Hegels Absoluter Geist als Fiktionen qualifiziert werden. Dies sind anscheindend notwendige Scheinbewegungen oder Fiktionen, deren universalen Inhalt Nietzsche zwar entlarvt, die er aber trotzdem als notwendige Fixationen der 'Leidenschaft der Erkenntnis' anerkennt. Diese 'Demaskierung' ist sein genealogischer Gegenzug gegen historisch überlebte 'Verschleierungen' ('metaphysischer Illusionen') über eine grundsätzliche Dissonanz.

[24] Während das dem Begriff zugrunde liegende Verb 'porein' unter anderem verschaffen, zustande bringen, verleihen und geben bedeuten kann, bekommt es in der unpersönlichen Form des Perfekts der passiven Form 'peprotai' die Bedeutung von vorbestimmt sein (wörtlich: 'Es ist vorbestimmt'). Dass das davon abgeleitete Substantiv 'pepromenon' Los oder Schicksal heisst, was auch durch die Verbindung dieses Begriffes mit Moira, einer der Schicksalsgöttinnen, bestätigt wird, weist auf seine typisch vor christliche Bedeutung. Die Griechen entliehen ja bekanntlich die Bedeutung und Richtung ihres Lebenswandels dem durch die Götter gelenkten Schicksal. Und eben die Hemmung dieses Schicksals durch Übermut ((....)), diese aporeia, ist das Thema der Tragödie. Sieh: A Greek English Lexicon. Henry George Liddel/Robert Scott, Clarendon Press Oxford 1968, 1449/1451-2.

[25] Dieser doppelte Ansatz stimmt mit Heideggers Bemerkung überein, dass der Destruktion bereits das Neue in sich trägt. Die durch Nietzsche vollzogene 'Übergangsbewegung' wird bei Norbert Bolz Eine kurze Geschichte des Scheins (München 1991) auch hinsichtlich der Rhetorik bemerkt. Er spricht über "affirmative und kritische Motive" (54). Sieh ausserdem Fussnote 23.

[26] Curt Paul Janz zum Beispiel weist darauf hin, dass Nietzsches Beschäftigung mit Aristoteles nicht so sehr dessen Metaphysik oder Ethik betrifft, sondern vor allem dessen Rhetorik und Poesie. Kants Schriften kennt Nietzsche hauptsächlich durch Kuno Fischer. Nur die Kritik der Urteilskraft hat er unmittelbar gelesen (I.404).

[27] Sieh Bolz, o.c., 56. Nietzsches Aufwertung der Rhetorik führt aufs neue zu Aporien. Bolz weist darauf hin, dass man einen Unterschied zwischen 'affirmative(n) und kritische(n) Motive(n)' (54) machen muss, wenn man ein deutliches Bild von der Bedeutung der Rhetorik in Nietzsches Werk bekommen will. In deren gegenseitiger Verflechtung verbirgt sich aber eine Aporie: die Überzeugungskraft der Rhetorik wird vernichtet, sobald diese als ein System von Tropen beschaut wird. Die Affirmation wird in der Kritik vernichtet. Auch hinsichtlich der Metapher als Grundlage der Wahrheit findet solch eine 'Verdopplung' statt. Colli weist darauf hin: "Nietzsche selbst begeht die Sünde der Metapher, indem er alles in metaphorischen Termini erklärt, denn der von ihm vorgeschlagene Metapher Begriff ist seinerseits eine interpretatorische 'Metapher' eines lebenswichtigen und universalen Prozesses, der der Metapher ähnlich ist, sie einschliesst, aber andere, komplexere und weniger greifbare Merkmale aufweist." (1.918)

[28] MüllerLauter weist ebenfalls auf das Problem: "Nietzsche nimmt auf diese Weise die Gegensätzlichkeit, die ihm zufolge dem Wirkliche zukommt, in Schutz gegen die Ansprüche der Logik. Dabei steht ihm allerdings vor Augen, dass aus dem logischen Postulat der Widerspruchslosigkeit nun selber eine freilich nur scheinbare Gegensätzlichkeit erwächst, die jedoch den wirklichen Gegensatzcharakter des Lebens verschleiert. Die Ausscheidung entgegengesetzter Bestimmungen aus einem Sachverhalt kann das Ausgeschiedene nicht schlechtweg negieren, da es faktisch vorgefunden wird b.z.w. sich immer erneut aufdrängt. Sie trennt es nur von dem ab, das mit sich selbst identisch ist. Das Abgetrennte kann dann nach dem Schema der Identität weiter gegliedert werden" (14).

[29] Die Überzeugung von der Wichtigkeit des Stils ((Die Wichtigkeit des Stils... is in het Duits een lelijke zin)) kommt bei ihm ebenso plötzlich wie radikal zum Durchbruch. In einem Brief vom 6. April 1867 (!) an Carl von Gersdorff erwähnt er eine lähmende Einsicht: "Mir fallen die Schuppen von den Augen: ich lebte allzulange in einer stilistischen Unschuld. Der kategorische Imperativ: "Du sollst und musst schreiben!" hat mich aufgeweckt. Ich suchte nämlich, was ich nie gesucht hatte ausser auf dem Gymnasium: gut zu schreiben, und plötzlich erlahmte die Feder in der Hand. (...) Ich möchte wahrhaftig nicht wieder so hölzern und trocken, nach der logischen Schnürbrust schreiben, wie ich es z.B. in meinem Theogenisaufsatz getan habe..." B2, 208-209).

[30] Besser: in seinen Schreibstilen. Sieh für die Behandlung dieses Themas: Jacques Derrida, Éperons. Les Styles de Nietzsche. Flammarion, 1971. Gerade der Gebrauch von Metaphoren und historischen Wendungen macht Nietzsches Werk in Augen mancher, worunter Dilthey, letzten Endes zu einem literarischen Werk. Bis heute greifen Kritiker den Gegensatz literarisch philosophisch immer wieder an, um den philosophischen Gehalt seines Werkes zu bagatellisieren. "Sobald wir den literarischen Charakter von Nietzsches Schriften ernstnehmen, muss die Triftigkeit seiner Vernunftskritik nach Masstäben des historischen Gelingens und nicht der logischen Konsistenz beurteilt werden." (Habermas, 1985,222). Das Fehlen logischer Konsistenz, das sich selbst vielfältig Widersprechen, all diese merkwürdigen aporetischen Wendungen, an denen sein Werk reich ist, sind für jemanden wie Habermas zum Beispiel unannehmbar. Aus diesem Grund beurteilt er in Der philosophische Diskurs der Moderne (1985) Nietzsches philosophisches Projekt negativ, weil es sich der Basisaporie ausliefert, wodurch es sich selbst 'dementiert'. Nietzsches Kritik "ist eine, die die Wurzeln der Kritik selbst angreift" (126) und sich in "(die) Aporien einer selbstbezüglichen Kritik der Vernunft" (121) verwickelt. Habermas steht vor einer einfachen Wahl: Logik oder Rhetorik. Aber damit unterschätzt er die Wirkung der Sprache und übersieht er Nietzsches methodische Entscheidung für die Aporie.

[31] Löwith, o.c., 18.

[32] Begriffshistorisch finden wir die Verwandtschaft zwischen Aphorismus und Horizont in 'aphorizo' zurück, was 'abstecken, trennen, die Grenze bestimmen, definieren' heisst. In 'aphorizo' steckt 'horizoo' van 'Horizont', was seinerseits wieder 'horos' oder 'Grenze', Säule,, Pfahl, Masstab oder Definition' umfasst. ((Ik heb van deze zin twee zinnen moeten maken, omdat de zinsbouw niet klopte)) Der Aphorismus kann dementsprechend auch als ein stilistischer Ausdruck eines sich selbst bewussten Perspektivismus verstanden werden.

[33] Löwith, o.c., 15.

[34] Damit schliesst sich Nietzsche anfangs der romantischen Tradition an, wie diese vor allem durch Friedrich Schlegel im Anschluss an Fichtes Philosophie behandelt wurde. Dessen 'kontrapunktischer Gang des Geistes', wie Behler dies in "Die Kunst der Reflexion. Das frühromantische Denken im Hinblick auf Nietzsche", in Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno von Wiese (Berlin 1973, 22) nennt, worin die Überschreitung vom und Zurückkehr zum Ich den Motor der Geistestätigkeit bilden, wird ((enkelvoud, omdat het volgens mij slaat op 'Geist')) bei Schlegel ästhetisiert. Er sieht das System als Kunstwerk, das immer seiner eigenen Spaltung blossgestellt ist. Ironie ist seiner Ansicht nach als ästhetisierte Selbstreflexion der höchste Ausdruck des Geistes. Das begrenzte Ich lebt von dieser fortwährenden Selbstüberschreitung. Lust und Schmerz, Machtserweiterung und Selbstverlust gehen dabei ineinander über. Ironie bekräftigt nur diese doppelte Bewegung. Dass Schlegel sich der aporetischen Struktur dieser Selbstbewegung bewusst ist, wird wohl aus durch ihn gebrauchten Ausdrücken wie 'Antinomie der Bildung' oder 'Form des Paradoxen' deutlich. Das Denken fängt an zu 'schweben' und verfängt sich in einem 'Oszillieren ' zwischen unvereinbaren Widersprüchen: "Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keines zu haben. Er wird sich also wohl entschliessen müssen, beides zu verbinden." Diese pseudo dialektische Verbindung fehlt aber bei Nietzsche.

[35] Sieh dazu Léon Hansen, "De prikkel der onvolkomenheid. Nietzsche en de ironie van de geschiedenis", in: Ernst & Ironie. Over ironie, geschiedenis, politiek en kunst, Groniek, Gronings Historisch Tijdschrift, Nr. 100, 1988, 46.

[36] Das griechische Wort 'parodie' bedeutet an erster Stelle eine 'komische Nachahmung'. 'Parodos' hat ausserdem die Bedeutung einer indirekten, düsteren Verweisung. Ich möchte es, ganz im Gegensatz zu den gebräuchlichen Begriffsumschreibungen, aufgrund des Stammwortes 'hodos' als 'Weg' lesen. 'Parados' bedeutet nicht nur wie Poros 'Zugang' oder 'Durchgang', sondern auch 'nach vorne kommen' oder 'erscheinen'. Vor allem diese letzten Bedeutungen passen zu der Weise, worauf Nietzsche dieses Stilmodell als affirmative Scheinbewegung gegen den von allem abstrahierenden und die konkreten Gestalten übersteigenden 'metahodos' oder Methode einsetzt.

[37] So beginnt Die fröhliche Wissenschaft mit der Bemerkung: "Diesem Buch thut vielleicht nicht nur eine Vorrede noth; und zuletzt bliebe immer noch der Zweifel bestehn, ob Jemand, ohne etwas Ähnliches erlebt zu haben, dem Erlebnisse diese Buchs durch Vorreden näher gebracht werden kann" (3.345).

[38] Heinz Krüger,Studien über den Aphorismus als philosophische Form. 1956, 91.

[39] Sieh für eine weitere Behandlung dieser Thematik: Henk Oosterling, Schijnbewegingen in de filosofie, filosofie als schijnbeweging. Rotterdams Filosofische Studies, Dissertatiereeks, Rotterdam 1994.

[40] Sieh: Aristoteles, Metaphysik, III(B)1, 995a. 33-36. Vertaling Friedrich Bassenge, Aufbau Verlag, Berlin 1960, p. 54.

[41] Ebenda, 996b 29-30.

[42] Auf den Zusammenhang zwischen Weisheit und Wahrheit, zwischen Mystik und Logik macht Colli aufmerksam. Rätsel und Dialektik hängen eng zusammen. Durch die Säkularisierung des Rätsels als mystische Erfahrung auf dem Wege über die Mantik zu einer diskursiven Agnostik nimmt die Dialektik langsam Gestalt an. Aristoteles schliesst diese Entwicklung ab (Colli, o.c., 67 ff.). Neben dem Begriff 'Problem', der wörtlich 'Gegen Stand' bedeutet und im 5. Jahrhundert noch für 'ein Rätsel aufgeben'und 'eine dialektische Frage stellen' gebraucht wird, ruft Colli auch "die Ausdrücke 'Befragung', 'Aporie', 'Untersuchung' und 'doppelsinnige Frage' " in Erinnerung: "Mystisches und Rationales wären demnach in Griechenland keine Gegensätze, sondern müssten als zwei aufeinanderfolgende Phasen eines grundlegenden Phänomens verstanden werden" (73). Der Opfergedanke kann auf diese Weise mit der Aporie verbunden werden. Colli weist darauf hin, dass "gleichsam etwas Rituelles im Bild des dialektischen Zusammenstosses (liegt)" (74). Verliert einer der Kämpfer diesen 'Agon', dann heisst dies "ein Opfer vollziehen" genauso wie bei dem Rätsel der Sfinx von Thebe, obwohl dies später nur im übertragenen Sinn geschah.

[43] Sieh hierzu: Pierre Klossowski, Nietzsche ou le cercle vicieux. Mercure de France, Paris, 1978.

[44] Sieh dazu: K. Verrijcken, "Apokastasis en herhaling: Nietzsches eeuwigheidsbegrip", in: Tijdschrift voor filosofie, 4, Leuven 1989, 649- 668. "Paradoxe wie diese ('Schwere, die leicht ist', ho) bieten, wie es scheint, einen geeigneten Ausgangspunkt für eine Analyse des Begriffes der ewigen Wiederkehr entsprechend seiner kennzeichnendsten Struktur, nämlich als coincidentia oppositorum (...). Nietzsches Ewigkeitsbegriff scheint eine Vielfalt antithetischer Bestimmungen in sich zu vereinigen." (650)

[45] Löwith, o.c. 1986, 98.