[2] abzeichnen, wird die Frage
interessant, ob Nietzsche vielleicht, des aporetischen Inhalts dieses
'existentiellen' Grundkonfliktes eingedenk, in allen Dimensionen seiner
Philosophie bewusst eine aporetische Spannung heraufbeschworen und
bewahrt hat. Diese würde sich dann immer in der Form von
Widersprüchen und Paradoxen melden. Jeder Versuch, ein
spezifisches Paradox auszuräumen missglückt letzthin,
weil man auf den durch Löwith geschilderten
unversöhnlichen Grundkonflikt stösst. Die damit
gegebene Aporie scheint dann auch die Grundstruktur von Nietzsches
Denken zu sein. Ich möchte den störrischen
Zusammenhang zwischen Nietzsches Philosophieren und dieser
fundamentalen 'Widersprüchlichkeit' vor dem Hintergrund seines
Ästhetizismus betrachten. Darunter verstehe ich die
genealogische Zurückführung von Moral und
Wissenschaft auf eine ästhetische Grundhaltung
gegenüber dem Leiden, wie in Nietzsches Behauptung "dass nur
als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt
gerechtfertigt sind" (1.152)[3]. Der Anlass hierzu sind ein paar kurze
Aufzeichnungen, die Nietzsche ungefähr 1870 als Vorbereitung
auf Die Geburt der Tragödie (1872) macht und die vor allem die
Rolle der Kunst, die Art der Wirklichkeit und die Wirkung des
Widerspruches angehen. Ich möchte behaupten, dass die
aporetische Spannung in Nietzsches Werk nicht für einen Mangel
an logischer Einsicht zeugt und ebensowenig eine rhetorische
Begleiterscheinung ist, sondern vielmehr die Folge einer systematischen
Zersetzung der Logik und des oppositionellen Denkens ist. Mit der
Aporie ruft Nietzsche, genauso wie die Mystiker, im Denken eine
Erfahrung wach, die sich selbst verwirrt und in der das Wesen des
Daseins sozusagen resoniert. In diesem Sinn funktioniert die Aporie als
ein diskursiver Kunstgriff, um die Wirklichkeit
'erfahrungsmässig' oder experimentell zu 'erfassen'.
1 I. Kunst als experimenteller Zugang zum Leben
Dass Nietzsche den Widerspruch positiv einschätzt, ersieht
sich aus zahllosen Bemerkungen sowohl in seinem
veröffentlichten Werk als auch im Nachlass. So ist es "ein
Zeichen von Wohl und Machtgefühl, wie weit einer den Dingen
ihren furchtbaren, ihren fragwürdigen Charakter zugestehen
darf; und ob er überhaupt 'Lösungen' am Schluss
braucht" (WzM nr. 852). Er teilt scheinbar nicht die Ansicht der
akademischeren Philosophie, für die der Widerspruch entweder
ein heuristisches Mittel oder die Untergrabung des Kennens bedeutet. Es
ist darum auch nicht verwunderlich, dass so mancher Denker des
zwanzigsten Jahrhunderts mit einer Neigung für Nietzsches
Ideen versucht hat, die Widersprüche in dessen Werk
auszuräumen.[4] Das dies geschieht, ist nicht so
bemerkenswert, wie die Art und Weise auf die es geschieht. Weniger
wohlwollende Kritiker haben zum Beispiel das unausweichliche
Vorhandensein der Widersprüche dazu benützt, um zu
beweisen, dass Nietzsche, obwohl er behauptete, radikale Kritik auf die
Metaphysik zu üben, durch die blosse Umkehrung von
Gegensätzen ein Exponent der metaphysischen
Beweisführung blieb.[5] Auch Heidegger bezieht sich auf
Nietzsches Bemerkung als ob dessen Denken 'ein umgedrehter Platonismus'
wäre, ohne dass er übrigens 'solch billige
Einwände'[6] wie den einer simplen Umkehrung gegen ihn macht.
Allerdings kommt er trotzdem zu der Schlussfolgerung, dass Nietzsches
Hammerschläge gegen die Mauern von Platons metaphysischer
Festung höchstens eine gründliche Erneuerung dieser
metaphysischen Burg zur Folge haben. Die Konstruktion eines ganz neuen
Hauses, in dem sich der post metaphysische Mensch niederlassen
könnte, dichtet Heidegger wörtlich sich selbst zu.
Trotzdem ist es die Frage, ob dieser Vorwurf Nietzsche trifft. Viel
spricht dafür, dass er durch seinen besonderen Umgang mit der
Sprache Heideggers Projekt bereits angekurbelt hat.[7] Ich will
versuchen, diesen Sprachaspekt ein wenig zu belichten.
1. An der Opposition vorbei selbst spaltendes Leben.
Dass Nietzsche sich nur schrittweise von der Metaphysik befreite wird
vor allem aus seinen frühen Aufzeichnungen aus 1870/71
deutlich. Daraus kann man ersehen, wie er den Streit mit den
traditionellen philosophischen Begriffen, Kategorien und Philosophemen
anbindet, um die bereits erwähnte Einsicht in den Griff zu
bekommen, die der Geburt der Tragödie zugrunde liegt. Mehr
noch als Plato ist hierin Kant die Zielscheibe und zwar vor allem die
durch ihn behandelte Thematik des Geschmackurteils in seiner Kritik der
Urteilskraft.[8] Mit dessen transzendentaler Analyse des
Schönen einerseits als Ausgangspunkt und anderseits als Punkt
des sich kritischem Abhebens vor Augen bemerkt er, dass "es ein
Naturschönes nicht gibt. Wohl aber das Störende
Hässliche und einen indifferenten Punkt"(7.164). Der
Gedankengang wird mit der musikalischen Metapher fortgesetzt: "Man
denke an die Realität der Dissonanz gegenüber der
Idealität der Konsonanz". Nur dem in der Musik als Dissonanz
erklingenden Störend Hässlichen wird anscheinend
Realität zugemessen. In einer folgenden Wendung wird die
produktive Auswirkung dieser Dissonanz physiologisch charakterisiert:
"Produktiv ist also der Schmerz, der als verwandte Gegenfarbe das
Schöne erzeugt aus jenem indifferenten Punkt". Anscheinend
geht dieses letzte dem Gegensatz schön hässlich
'voraus'. Was wird mit 'jenem indifferenten Punkt' gemeint? Der
Gebrauch des Wortes 'Punkt' an dessen Stelle in aktuellen Debatten
durch den Einfluss neuer theoretischer Konzeptualisierungen in der
Astrophysik häufig der Begriff 'Singularität'
gebraucht wird weist darauf hin dass es hier um eine fiktive Annahme
geht: ein Punkt hat keine wahrnehmbaren Dimensionen und dient dennoch
als Basis für jede Orientierung Raum und Zeit. Wenn wir
Nietzsches Gedankengang weiter verfolgen, entsteht das Vermuten, dass
die beunruhigende Erfahrung, die er in Die Geburt der Tragödie
als dionysischen Rausch charakterisiert, dafür als erste in
Betracht kommt.[9] Dieser Rausch enthält durch die
Zerstückelung des principium individuationis indirekt die
Elemente des 'Störend Hässlichen', der 'Dissonanz'
und des 'Schmerzes'. Dem Beispiel des durch Schopenhauer in die
westliche Philosophie eingeführten Buddhismus folgend sieht
Nietzsche im Schmerz und im Leiden anscheinend eine Art physiologischer
Dissonanz, die den schönen Schein erfordert, um
erträglich zu sein.[10] Die implizite Kritik an Kants Analyse
des ästhetischen Urteils trifft direkt die dahinterstehende
Annahme des selbstreflexiven Bewusstseins oder des 'Ich denke', dass
sich in praktischer Hinsicht als das autonome Subjekt artikuliert. In
dem dionysichen Rausch offenbart sich, was erst noch schopenhauerisch
das Ur Eine, später aber Wille zur Macht genannt wird: ein
Kräftefeld, dass durch die durch Kant postulierte Einheit des
urteilenden Cogito zersetzt wird. Der Rausch ist, vollkommen in
Übereinstimmung mit dem 'Wesen'(7.191)[11] der Wirklichkeit
eine nicht harmonische, unartikulierte Erfahrung des 'Seins', wobei wir
den Begriff 'Erfahrung' selbstverständlich nicht im kantischen
Sinn verstehen dürfen. Dieser als Kräftefeld gedachte
dionysische Wille lässt sich, sobald wir versuchen, seine
Auswirkung durch denken in den Griff zu bekommen, nicht unter einen
allgemeinen Nenner bringen. Dies wird durch ein Anzahl Fragmente etwas
weiter in den Aufzeichnungen bestätigt: "Das Leidende,
Kämpfende, sich Zerreissende ist immer nur der eine
Wille..."(7.166), und "Es gibt nur ein Leben, ein Empfinden, einen
Schmerz, eine Lust. Wir kennen also den Schmerz, die Lust, das Leben
nicht an sich"(7.197). Nach und nach wird Nietzsche diese noch
metaphysisch geladene Beschreibung in den Gedanken eines
Kräftekomplexes verändern, in dem sich die doppelte
Wirkung von Selbsterhaltung und Überwindung äussert.
So wird später "das eigentliche Geschehen alles
Fühlens und Erkennens (...) eine Explosion der Kraft"(11.64),
ein Ereignis, das nur unter bestimmten Umständen wie zum
Beispiel bei 'äusserster Intensität', 'Wollen'
genannt wird. Letzten Endes wird in Jenseits von Gut und Böse
der Wille "vor allem etwas Complizirtes, etwas das nur als Wort eine
Einheit ist"(5.32). Erst dann ist die Metaphysik ein grammatikalischer
Effekt geworden. Als Nietzsche 1888, kurz bevor er sein Projekt Der
Wille zur Macht, für das er viele Entwürfe gemacht
hat, aufgibt, in einer Radikalisierung seiner Kantkritik das Statut der
'Dinge' zur Diskussion stellt und in einer Kritik des mechanischen
Erklärungsmodells kurz den Charakter des Willens beschreibt,
versucht er jede Metaphorik zu vermeiden, indem er Begriffe wie
"dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen
anderen dynamischen Quanta"(13. 259) anwendet. Das 'Wesen' der
früheren Texte ist nun vollständig in einer Dynamik
aufgelöst, die er selbst nicht aus dem Gegensatz Sein Werden
deutet, sondern als ein 'Pathos', als die elementarste "Thatsache, aus
der sich erst ein Werden, ein Wirken ergiebt"(13.259).[12] Seine
Sprache wird minimal. So lautet die Antwort auf die essentialistisch
getönte Frage nach dem, was ein Kraftquantum ist, dass das nur
aus der "Wirkung, die es übt und der es widersteht"(13.259)
deutlich wird. Ein in sich selbst aufgeworfener Widerstand ist
scheinbar die minimale Qualität eines Pathos, das dadurch
grundsätzlich vielfältig, weil selbstspaltend ist.
Das schliessliche Ergebnis ist eine Vielheit von Willen, die in sich
selbst und untereinander nach Widerstand streben. Nietzsche
kennzeichnet diesen Willen in seinen frühen Aufzeichnungen
noch pseudo metaphysisch als "de(n) vollkommen(n) Widerspruch als
Urgrund des Daseins"(7.166), eine Formulierung, die
regelmässig zurückkehrt. So heisst es zum Beispiel in
einem späteren Hinweis auf Kant: "Die 'erste Ursache' ist, wie
das 'Ding an sich', kein Räthsel sondern ein Widerspruch"
(11.65). In der Tragödie, "im Wesen des Tragischen" tritt dann
"der Genuss am Widerstand" auf, der sich "...als das Wesen der Dinge
(...) in der tragischen Handlung wieder(spiegelt). Er erzeugt aus sich
eine metaphysische Illusion, auf die es bei der Tragödie
abgesehen ist. Der Held siegt indem er untergeht"(7.191). In dem
schönen Schein des griechischen 'Dramas' spiegelt sich in dem
tragischen Untergang des zur Einsicht getriebenen Helden der
Widerspruch des Daseins. An der Tatkraft des Helden kann man sozusagen
'das Wesen der Dinge' ablesen. Seine Taten werden ihm aber mehr durch
einander widerstrebende, wohl oder nicht Göttern zugesprochene
Kräfte eingegeben als durch eindeutige Motive und Absichten
des Täters.[13] Der nicht absichtliche, 'experimentelle'
Aspekt wird in einer Fussnote in einem gegen Wagner gerichteten Text
bestätigt, in dem Nietzsche die Thematik der Geburt der
Tragödie wieder aufgreift. Darin wird die Bedeutung des Wortes
'actio' oder 'drama', was so viel heisst wie 'Ereignis', 'Geschichte',
nicht, wie bei Wagner, auf die Handlung
zurückgeführt, sondern auf den dorischen Ursprung.
"Das älteste Drama stellte die Ortslegende dar, die 'heilige
Geschichte', auf der die Gründung des Cultus ruhte (also kein
Thun, sondern ein Geschehen: 'dran' heisst im Dorischen gar nicht
'thun')"(6.32). Mit anderen Worten: erst kommt die Tat, dann, erst
durch retrospektive Zuteilung der Bedeutung, der Täter. Der
Vorwurf, dass bei Nietzsche nur von einer einfachen Umkehrung der
metaphysischen Gegensätze die Rede ist, scheint nun
überdeutlich fehl am Platz. Der positive Begriff (das
Schöne) vor allem eine notwendige Scheinbewegung, die durch
eine aus einem indifferenten Zustand (Rausch) heraus wirkende, in sich
selbst gespaltene und immer aus konkreten Mengen bestehenden
Ausrichtung (Willen) her generiert wird. Das autonome Subjekt kann
diesen indifferenten 'Zustand' durch dessen heteronomen Charakter
nachträglich nicht anders denn als einen negative Wert
(hässlich), das heisst so wie Kant als eine privative oder wie
Hegel als eine dialectische Negation des positiven Begriffes denken.
Der Gegensatz wird also nicht umgekehrt, sondern vom Leben her
'umgewertet'. Er ist als Ganzes eine Funktion eines
überreichen Lebens, ein Pathos. An dieser Stelle taucht wieder
der durch Löwith lokalisierte 'Grundkonflikt' auf und
präsentiert sich die Aporie folgendermassen: Wie kann
Nietzsche dasjenige denken, was sein Denken motiviert und
produziert?[14] Wie weiss Nietzsche, was er nicht wissen kann? Der
Schlüssel zu der Antwort liegt, wie ich darlegen werde, in der
Neuformulierung der 'Wissen'schaft, wie sie Nietzsche in dem Werk Die
fröhliche Wissenschaft vollzieht. Allem voran geht die
Zerrüttung aller Gegensätze. Doch kehrt diese
Neubewertung nicht immer gleich deutlich in den späteren
Texten zurück. Manchmal scheint sich Nietzsche
unnötig zu widersprechen. Oft haben wir es dann aber mit einem
Paradox zu tun, das durch eine implizite Veränderung der
Perspektive verursacht wird. Ein Beispiel genügt, um dies zu
verdeutlichen. Nietzsche übersetzt in den Aufzeichnungen zur
Neuausgabe der Geburt der Tragödie 1886 unter dem Titel "Der
tragische Künstler" den Gedanken des Willens zur Macht in
Begriffe des ekstatisch, tragisch dionysischen Zustands seines
frühen Werks zurück. Wie Hegel in dessen
'spekulativem Satz' [15] bringt er zwei einander ausschliessende
Stellungen auf kaum merkbare Weise in einer Behauptung unter. Als
'Gefühl der Fülle' oder ein 'Machtgefühl',
das heisst aus Überfluss und Kraft "spricht das Urteil
'schön' noch über Dinge und Zustände aus,
welche der Instinkt der Ohnmacht nur als hassenswert, als
'hässlich' abschätzen kann"(WzM: nr. 852) Mit anderen
Worten: was für den Ohnmächtigen, den 'Sklaven'
hässlich ist, was sich ihm, "wenn es ihm leibhaftig
entgegenträte, als Gefahr, Problem, Versuchung"
präsentiert, wird durch den aus dem Überfluss
handelnden, tragischen Künstler, Herrn oder Vornehmen als
'schön' erfahren. Nietzsche scheint hier seine
frühere 'Umwertung' zunichte zu machen. Aber die Betonung
liegt hier auf 'erfahren'. Wenn die Eigenschaft auf etwas zutrifft,
dann wohl auf die sich als überwältigender
Überfluss darstellende Tatkraft. Diese Hinwendung zu einer
anderen Art, zu einer fast vorästhetischen
'Schönheit' wird später in Zur Genealogie der Moral
auf analoge Weise mit Beziehung auf das 'Gute' ausgearbeitet. Nietzsche
spricht dort über ein vormoralisches Gutes, das im scheinbaren
Gegensatz gut schlecht durchwirkt. Es handelt sich hier um die
Bewertung der Taten der Vornehmen. Genauso wie das Schöne ist
die nachträglich als 'gut' gekennzeichnete Tat
anfänglich wertfrei, weil man sie nicht von einem zuvor
gegebenen Wert aus prüfen kann. Insoweit geht es um ein vor
moralisches Gutes. Der Wert wird ihm erst hinterher durch den Sklaven
'zugeschrieben', weil die Tat des Herren ihm zur Richtschnur seines
Verhaltens wird. Insofern ist die wertlose Tat des Herren
wertschöpfend. Dieselbe Argumentation gilt meines Erachtens
für das Urteil 'schön'. Oder kantisch formuliert:
dieses Geschmacks'urteil' wird nicht im Selbstbewusstsein fundiert,
sondern ist höchstens als eine retrospektiv erkennbare
Scheinbewegung der Grammatik eine vollkommen willkürliche und
sprachliche Wertung: ein eine Einheit suggerierendes 'Wort'. Aber wenn
der Widerspruch 'Urgrund des Daseins' ist, und dieser in der Musik als
Dissonanz erklingt oder als Schmerz empfunden wird[16], ist das Leid
dann nicht, wie Aristoteles, Hegel und Schopenhauer auf immer
verschiedene, aber strukturell verwandte Weise behaupten, wenigstens
zeitweilig durch die Kunst aufzuheben? Anfänglich scheint
Nietzsche diese Ansicht zu teilen. In seinen frühen
Aufzeichnungen weist er auf die "Richtung der Kunst, die Dissonanz zu
überwinden: so strebt die aus dem Indifferenzpunkte
entstandene Welt des Schönen danach, die Dissonanz als das an
sich Störende mit in das Kunstwerk
hinüberzuziehn"(7.166). Es ist verführerisch, hierin
eine Variante der aristotelischen Katharsis, der hegelschen Aufhebung
oder der schopenhauerschen Läuterung wiederzuerkennen. Dieser
Eindruck wird durch die Bemerkung verstärkt, dass "das Mittel
die Wahnvorstellung, überhaupt die Vorstellung (ist), mit der
Grundlage, dass ein schmerzfreies Anschauen der Dinge hervorgebracht
wird"(7.166). Nietzsche hält sich anscheinend eine dergleichen
schopenhauersche Option erst noch offen: "Wie ist Schmerzlosigkeit
möglich?"(7.165). Aber schon schnell schlägt sein
Zögern ("Der physiologische Prozess ist welcher? Eine
Schmerzlosigkeit muss irgendwo erzeugt werden aber wie?"(7.166)) in dem
veröffentlichten Text in die Verwerfung des Katharsisgedankens
um: "Die Kunst (....) allein vermag jene Ekelgedanken über das
Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit
denen sich leben lässt..."(1.157). Die Kunst nimmt den Schmerz
nicht weg, sondern macht ihn höchstens erträglich.
Oder etwas allgemeiner verständlich gesagt: eine gute
Geschichte erleichtert den Schmerz. Die christliche Variante dieser
Erkenntnis kann man folgendermassen ausdrücken: Die Geschichte
des Sündenfalls und das Versprechen des Himmels bieten einen
Zusammenhang für das unerträgliche Leiden, das an
sich kein Problem ist, wie die ausserordentliche
Gewalttätigkeit, die das Christentum selbst entfesselte,
zeigt. Nur die Sinnlosigkeit des Leidens stellt den Menschen vor
Probleme. Die Tragödie ist also nicht für die
Zuschauer bestimmt "um sich von einem gefährlichen Affekt
durch dessen vehemente Entladung zu reinigen"(6.160), wie es irgendwo
in einer Kritik auf Aristoteles' Poetica heisst. Sie bestätigt
gerade die Dissonanz und das Leiden. Der notwendige Schein, das
Schöne macht das mit sich selbst im Widerspruch verkehrende
Leben erträglich. Nietzsches Wertschätzung des
Scheins hat weitreichende antropologische und pädagogische
Implikationen: "Könnten wir uns eine Menschwerdung der
Dissonanz denken und was ist sonst der Mensch? so würde diese
Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion
brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr
eignes Wesen decke"(1.155). Aber wenn die Tragödie ein
'Schönheitsschleier' ist, dann gilt das im selben Mass
für alle Sinngebungen, die den Anspruch erheben, den Schmerz
oder das Chaos zu neutralisieren. Also auch das 'Ich denke', cogito
oder Subjekt ist so ein 'Schönheitsschleier'. Es ist eine
notwendige, aber 'metaphysische Illusion', eine Fiktion. Eine
unvermeidliche Scheinbewegung. Hieraus wird noch einmal deutlich, dass
der Gegensatz Sein Schein ebenso wenig wie der zwischen schön
und hässlich einfach umgedreht wird: der Gegensatz pfropft
sich vielmehr auf ein als Dissonanz qualifiziertes 'Pathos', das nicht
aus diesem Gegensatz verstanden werden kann, aber uns doch immer wieder
dazu verführt, sobald wir darüber nachdenken.
2. Indifferenz: Gleichgültigkeit,
Negativität oder Affirmation?
Aber was ist nun dieser merkwürdige 'Indifferenzpunkt',
über den Nietzsche immer spricht? Die Frage drängt
zich auf, in welchem genauen Verhältnis er zu den
Gegensätzen schön hässlich oder Sein Schein
steht. Lassen wir dazu aus polemischen Erwägungen die
Definition des 'Denkens' von Hegel, Nietzsches anderem Antipoden, der
mehr noch als Kant fast unausgesprochen kritisiert wird,
übernehmen. Hegels Definition ist für Nietzsche
selbstverständlich eine Frage des Geschmacks, genauso wie
"Hegel ein Geschmack ist"(6.36). 'Denken' im hegelschen Sinn wird das
vermittels Negationen auseinandersetzen der Wirklichkeit in
(formalonto)logischen Oppositionen. Die Spannung zwischen dem negativen
und dem positiven Pol wird im Paragraphen 'Reflexionsbestimmungen' in
Wissenschaft der Logik als Unterschied gedeutet. Unterschiede werden
letzten Endes so eng aneinandergeschmiedet, dass sie über den
Gegensatz zum Widerspruch werden.[17] Wenn man von dieser Definition
ausgeht, dann drängt sich unmittelbar die Frage auf, ob die
Indifferenz beim Fehlen von Unterschieden oder Differenzen
überhaupt noch gedacht werden kann. Haben wir denkend nicht
schon immer die Indifferenz überholt? Wenn Hegels
systematische Philosophie bis sicher 1850 in hohem Mass für
das damalige Denkklima bestimmend gewesen ist danach wurde er nach Marx
Ansicht vor allem durch die Neokantianer als 'ein toter Hund'
behandelt, dann erklärt das womöglich, warum
Nietzsche die Indifferenz als '(Ab)grund' der Gegensätze
zwischen Denken und Sein situieren muss, im Gegensatz zu Hegel der sie
noch als Begriff denkt.[18] Diese Gleichgültigkeit kann
Nietzsche nur wörtlich mit einer prinzipiell
unmöglichen diskursiven Bewegung 'umschreiben'. Das Wort
'Indifferenz', müssten wir mit ihm sagen, ist die letzte
Möglichkeit, die nicht logische 'Differenz' zwischen Denken
und Sein ins Auge zu fassen.[19] Es ist nur ein Wort und kein Begriff.
Ausserdem erhebt sich die Frage, ob solch eine Indifferenz dann dem
Denken vorausgeht oder ob sie dessen ekstatische Vernichtung und
Vollendung beinhaltet. Sowohl fürs erste wie fürs
letzte spricht aufgrund früherer Aufzeichnungen einiges. "Was
ist das Wesen noch in jenen Indifferenzpunkten? Ist die Zeit
vielleicht, ebenso wie der Raum aus diesen Indifferenzpunkten zu
erklären? Und ist die Vielheit des Schmerzes vielleicht wieder
aus jenen Indifferenzpunkten abzuleiten?"(7.165) Mit dieser impliziten
Verweisung auf Kants transzendentale Ästhetik am Beginn der
Kritik der reinen Vernunft wird suggeriert, dass indifferente
Punkte(!), jedem Verstandsakt, der in Zeit und Raum gegeben ist,
systematisch vorausgehen. Die an anderer Stelle erwähnte
'Schmerzlosigkeit' hingegen erweckt den Eindruck, dass die Indifferenz
nicht vor dem Denken, sondern als dessen Ekstase auftritt, als 'jene
höchste Verzückung', die durch die Vorstellung oder
den Schein erlebt wird. In Texten, die kurz nach der Geburt der
Tragödie geschrieben sind, wird diese Ansicht
bestätigt: "Aber die allgemeine Bewegung geht vom Schmerz zur
Lust, das ist die positive Richtung. Freilich schwindet auch die Lust
in der Richtung auf den Indifferenzpunkt" (8.155).
Der 'Indifferenzpunkt' kann also sowohl den angestrebten End als auch
den postulierten Anfangszustand betreffen. So wird es möglich,
bestimmte Zustände des Kunstwerks oder des Künstlers
als zwei Gestalten dieser Indifferenz aufzufassen. Die folgende
Bemerkung, die mit einem Hinweis auf die eleusischen Mysterien endet,
macht auf jeden Fall einen Vorschlag in der Richtung: "Der Mensch ist
nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die
Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung
des Ur Einen, offenbart sich unter den Schauern des Rausches. Der
edelste Ton, der kostbarste Marmor, wird hier beknetet und behauen, der
Mensch...." (1.30). Doch bleiben wir im Ungewissen und zwar nicht
zuletzt, weil zum Beispiel in diesem Zitat ein plötzlicher
Übergang zur Mehrzahl stattfindet. Im Licht der
späteren Entwicklung des Gedankens vom Willen, der letzten
Endes als Vielfalt präsentiert wird, ist das noch
verständlich. Aber systematisch logisch ist eine Menge gegen
diese Vervielfältigung einzuwenden, weil jede Qualifizierung
des Nicht Begriffes 'Indifferenz', so gering sie auch ist, eine
Schwächung von dessen amorphen Charakter bedeuten
würde. Die Verwirrung erreicht ihren Höhepunkt, wenn
klar wird, dass in dem Originalmanuskript anstelle des Wortes
'Indifferenzpunkt(e)' ursprünglich 'Differenzpunkt' stand
(14.537), wie Colli und Montinari uns in ihren Kommentaren mitteilen.
Aus all diesen ambiguen Beschreibungen können wir aber
ersehen, wie holpernd Nietzsche versucht, ein Geschehen in den Griff zu
bekommen, das sich jeder logischen Analyse widersetzt und das deshalb
nur mit einem Nicht Begriff wie 'Indifferenz' angedeutet werden kann.
Mit oppositionellen Denkkategorien kann man diese Indifferenz
keinesfalls begreifen. Diese pfropfen sich vielmehr auf, sobald das
Denken den Versuch unternimmt, die verwirrenden Kräfte zu
begreifen und in den Griff zu bekommen, mit anderen Worten sobald das
Subjekt probiert, seine Autonomie durch die Rationalisierung
heteronomer Kräfte zu etablieren. 3.
Kunst als Poros: Uberfluss, Mittel und Zutritt
Wenn der Urgrund des Daseins ein 'widersprüchliches'
Kräftefeld , welche 'spiegelnde' Rolle spielt die Kunst dann?
Nach Nietzsches Ansicht hängt der Ursprung des Kunstwerks eng
mit dem menschlichen Bedürfnis zusammen, diese Indifferenz zu
erfahren. "Die bunte Blüthe, der Pfauenschweif (das heisst der
schöne Schein, ho) verhält sich zu seinem Ursprung,
wie die Harmonie zu jenem indifferenten Punkt, d.h. wie das Kunstwerk
zu seinem negativen Ursprung. Das was dort schafft,
künstlerisch schafft, wirkt im Künstler"(7.165). Aus
diesem letzten Zusatz wird wieder deutlich wie (der) Wille als
Überfluss und Bejahung sowohl im Anfangsstadium im kreativen
Rausch des Künstlers oder 'des Einzelnen' wie am Ende des
künstlerischen Prozesses bei der Rezeption des Kunstwerkes
situiert wird. In der Kunst wird die Welt immer wieder geschaffen: "Das
Kunstwerk und der Einzelne[20] ist eine Wiederholung des Urprozesses,
aus dem die Welt entstanden ist"(7.165). Wenn das Kunstwerk und die
Tätigkeit des Künstlers etwas über das Sein
aussagen, geschieht das also nie totalisierend und
begriffsmässig, sondern immer im wörtlichen Sinn
fragmentarisch und 'experimentell', das heisst durchlebt,
erfahrungsgemäss, leiblich. In der Physiologie der
Ästhetika, nach der der spätere Nietzsche auf der
Suche ist, spielt der Rausch dementsprechend eine bedeutende Rolle:
"Damit es Kunst gibt...dazu ist eine physiologische Vorbedingung
unumgänglich: der Rausch"(6.166). Eher als dieses Leben und
nicht das Leben im Rausch verstanden wird, klingt oder leuchtet sein
dissonanter beziehungsweise hässlicher Charakter in der Musik
und in der Vorstellung auf. Durch die physische Auswirkung des
Kunstwerks auf den Körper erfahren die Zuhörer und
Zuschauer das 'Wesen' des 'Seins' am eigenen Leib. Diese
'experimentelle' oder wenn wir die Handlung des Helden zentral stellen:
dramatische Funktion des Kunstwerkes erläuter Nietzsche mit
einer ziemlich rätselhaften Bemerkung: "Wir brauchen dann ein
die Welt als Kunstwerk, als Harmonie produzirendes Wesen, der Wille
erzeugt dann gleichsam aus der Leere, der ((ví(, die Kunst
als (ópos."(7.165) Dieses Wesen könnte, soweit es
den Urwillen verkörpert, der geniale Künstler sein.
In dieser Bejahung einander widerstrebener, heteronomer
Lebenskräfte schafft er ein später als schön
oder hässlich erfahrenes Kunstwerk. Der zweite Teil dieser
Bemerkung ist rätselhafter. Beide griechischen Begriffe
können wir nur verstehen, wenn wir Nietzsches Vorlesung von
Platons Symposium, seine 'Lieblingsdichtung' [21] hinzuziehen. Es geht
hier um einen Abschnitt, in dem die Seherin Diotima Sokrates
über Eros' Geburt erzählt. Darauf dass nach
Nietzsches Ansicht Eros das Begehren oder den Willen
verkörpert brauche ich nicht einzugehen. Diotima betont in
ihrer Erzählung, die Sokrates' Charakterisierung von Eros als
einem Begehren, das nur infolge eines Mangels besteht folgt vor allem
den Doppelcharakter dieses Dämons (((i(oviov): "Als
nämlich Aphrodite geboren war, hielten die Götter
einen Schmaus, und mit den anderen auch Poros (Erwerb,
Betrieb/(ópos), der Sohn von Metis (Weisheit). Als sie aber
gespeist hatten, da kam Penia (Armut/((ví() um sich etwas zu
erbetteln, da es ja festlich herging, und stand an die Türe.
Poros nun, begab sich, trunken vom Nektar den Wein gab es damals noch
nicht , in den Garten des Zeus und schlief im schwerem Rausche ein. Da
mag Penia ihrer Bedürftigkeit (((opi(v) wegen den Anschlag,
ein Kind vom Poros zu bekommen: sie legt sich also zu ihm hin und
empfing den Eros."[22] Beim Vergleich dieser Erzählung mit
Nietzsches Wiedergabe fällt auf, dass er die Rollen von Vater
und Kind vertauscht. ((ví( Armut oder hier Leere bleibt zwar
als passives Element, als 'Materie' der Mutter, aber der
ursprüngliche Vater, (ópos Überfluss und
Vermögen wird nun das Kind: Eros. Als Liebe, Begehren und
Wille fungiert dieser als Personifizierung der Kunst.[23] In der Armut
oder Mittellosigkeit mit ihrem privativen Aspekt ((opi(v oder
Unvermögen erkennen wir die Indifferenz als 'negativen
Ursprung' der Kunst wieder. Nur durch das apollinische Aufhellen der
dionysischen Kräfte kann des 'Wesen des Daseins', das heisst
sein Überfluss erfahren werden. Ein anders Bedeutungselement
von 'poros' verdeutlicht dies. 'Poros' bedeutet nämlich ausser
Vermögen auch 'Mittel' und im abgeleiteten Sinn 'Zugang' oder
'Durchgang. Diese Verschiebung der Bedeutung entspringt der
ökonomischen Bedeutung von 'Vermögen' als einem
Überfluss an Existenzmitteln. So wird die Kunst ausser einem
Vermögen als Kraft und Möglichkeit ein Mittel, ein
Medium, das einen nicht diskursiven, erfahrungsmässigen oder
experimentellen Zugang oder Durchgang zum Leben bietet.
Begriffshistorisch betrachtet deutet 'poros' ausserdem auf einen Weg,
was in dem von 'poros' abgeleiteten 'poreia', Reise oder Marsch noch
stärker zum Ausdruck kommt. Wenn der Begriff unter dem
Eindruck der christlichen Eschatologie im Neuen Testament die
abstraktere Bedeutung von 'Lebenswandel' bekommt, bleibt dieser
existentielle Aspekt erhalten.[24] Nun, Nietzsches Charakterisierung
des poros scheint all diese Elemente zu enthalten: Überfluss,
Vermögen, Mittel, Zugang und Weg. Kunst als poros ist also
keine reine Abspiegelung oder Reflexion des Daseins. Es ist also keine
Rede von einer Repräsentation dessen, was im Voraus gegeben
ist. Die Selbstpräsentation des Kunstwerks gleicht vielmehr
dem Weltgeschehen. Das Kunstwerk resoniert das Dasein "als eine
Wiederholung des Urprozesses, aus dem die Welt entstanden ist".
2 II. Aporie als 'diskursiver' Kunstgriff
Nietzsche ist der Ansicht, dass ein begrifflicher Zugang zum Leben
unmöglich ist. Das Denken selbst ist nämlich, in der
Form dessen, was er erst negativkritisch den Willen zur Wahrheit und
später positivbejahend oder schöpferisch[25] 'die
Leidenschaft der Erkenntnis'(3.479) nennt, eine Funktion des mit sich
selbst im Widerspruch verkehrenden Lebens oder des Willens zur Macht.
Das Selbstbewusstsein kann dies nicht, wie zum Beispiel Hegel
behauptet, umfassen oder übersehen. Solch ein Sprung
über den eigenen Schatten führt zu einer Aporie.
Diese Aporie kann nur mit einer 'Hinterwelt', mit einem alles
umfassenden Prinzip, maskiert werden. Der Art des Denkens selbst
entnehmen Systemdenker ein notwendiges Postulat, von dem aus die
opposiotionelle Spannung und das damit einhergehende Leiden aufgehoben
werden könnten. Nietzsche würde all diese
'Hinterwelten' Gott, Subjekt, Absoluter Geist und Mensch
zertrümmern wollen, aber ihm entgeht dabei nicht, dass er all
diese Scheinbewegungen des Lebens als Schein, als 'regulative
Fiktionen'(11.505) oder als 'Worte' ernst nehmen muss. Nur dadurch,
dass man sie in ihrer Oberflächlichkeit für wahr
annimmt, entgeht man der Falle der Grammatik. Wenn diese genealogische
Ansicht kritisch eingesetzt wird, scheint Philosophieren eine
ästethische Dimension zu bekommen: wahr nemen und für
wahr annehmen gehen ineinander über. Als 'Experimental
Philosophie'(WzM, nr. 1041), bietet es auf ästhetische Weise
Zugang zum Leben. Dies heisst aber, dass Nietzsche denken neu
definieren muss als eine sich selbst spaltende, Widerstand und
Widersinn erregende Aktivität, durch die der Wille zur Macht
bejaht wird. Meiner Meinung nach 'inszeniert' er dazu den
unvermeidlichen aporetischen Sprung vermittels einer parodierenden
Taktik, dadurch dass er "etwa als Parodist(..) und der Weltgeschichte
und Hans W(u)rst(.) Gottes" spricht(5.157). Er brüskiert
hiermit das Bedürfnis an "Lösungen am Schluss".
Dadurch dass er allerlei Widersprüche in Szene setzt und daran
festhält, hetzt er das Denken gegen es selbst auf, das heisst
gegen die Grammatik und den Zwang der Logik. In den Werken zwischen
1881 und 1887 zieht er aus seiner Auffassung über den sich
selbst spaltenden Charakter des Dasein und die notwendige
Ästhetisierung dieses Abgrundes die äussersten
Konsequenzen. Die Kunst hat er bereits unter der Optik des Lebens
betrachtet. Nun ist ein zweiter Schritt erforderlich: "die Wissenschaft
unter der Optik des Künstlers zu sehn"(1.14). Er tut dies auf
zwei Manieren: einerseits entwickelt er als methodische Grundlage
seines Philosophierens den sich aus der Genealogie ergebenden
Perspektivismus, anderseits entwirft er vermittels seines besonderen
Stils ein experimentelles Denken, in dem der Leser als kennendes
Subjekt ebenso, wie das beim Kunstwerk der Fall ist, aufs Spiel gesetzt
wird und 'das Wesen der Dinge' erfahrungsmässig erlebt.
Rhetorik, Logik und 'mystisches' Sprechen werden dazu aufeinander
gepfropft. Mit diesem ersten Ansatz wird das 'wissenschaftliche' Statut
seiner Schriften transformiert. Durch eine Genealogisierung von
Begriffen wie 'wahr', 'schön', 'gut' und 'Wirklichkeit' ist
Nietzsche zu der Erkenntnis gekommen, dass Wahrheiten verkappte
moralische Imperative 'maskieren': jede Wahrheit entspringt einem
Willen zur Wahrheit. Im bejahenden Sinn heisst dies, dass Kennen wieder
zu einer schöpferischen Tat werden kann, bei der Wahrheit und
Wirklichkeit eher gegründet als entdeckt werden. Die
Zurückführung ihrer Wirksamkeit auf die Kunst
stützt sich auf den Gedanken, dass der Vornehme, der den
Dingen ihren Namen (und nicht: ihre Begriffe) gibt "Die Originalen sind
zumeist auch die Namengeber gewesen"(3.517) durch seine
werteschöpfende Tat und Überzeugungskraft den
kollektiven Umgang mit den Dingen bestimmt. Dieser
schöpferische Trieb erfordert aber "die eigentliche
Lüge, die ächte resolute 'ehrliche'
Lüge"(5.386). Davon war 'am Anfang' auch die Rede, aber im
Laufe der Zeit hat man sie aktiv vergessen: die Bilder, die den
Begriffen zugrunde liegen "(dünken) nach langem Gebrauche
einem Volke fest, canonisch, verbindlich"(1.880-1). Begriffsbildung ist
nur durch 'aktives Vergessen' der 'Anschauungsmetaphern'
möglich(1.879). Der zweite Ansatz ist undurchsichtiger. Er
besteht daraus, in dem Medium der Sprache die Wirkung desjenigen zu
beschreiben, was es suggeriert den Willen zur Macht mit seinen
spaltenden und Widerstand erregenden Wirkungen experimentell
heraufzubeschwören: das lesende Subjekt empfindet diese durch
die Durchdenkung von Nietzsches Widersprüchen und Aporien am
eigenen Leib. Es erfährt diese und leidet darunter, so lange
es die Darlegung rational im Griff behalten will. Gerade durch dieses
aus der Fassung bringen bietet Nietzsches aporetische Sprache ebenso
wie die Kunst ein 'Poros', einen nicht diskursiven Zugang zum Sein.
Durch eine Verflechtung von Stilfiguren und logischen Verzerrungen wird
bei dem Leser eine Erfahrung vom Urgrund des Daseins wachgerufen.
1. Rhetorik und Logik: das Ding als Fiktion
Eine notwendige Bedingung hierfür ist Einsicht in die
Machtwirkungen der Sprache. Als Philologe hat der junge Nietzsche
Interesse für die Rhetorik in der Antike. Volkmans Die
Rhetorik der Griechen und Römer und Gerbers Die Sprache als
Kunst bringen ihn auf die Spur des rhetorischen Wesens des
Argumentierens. Der als Philosoph vollkommen autodidaktisch gebildete
Nietzsche richtet sich, vor allem durch diesen philologischen
Hintergrund, in den durch ihn studierten Werken vor allem auf die
rhetorischen und ästhetischen Aspekte philosophischer
Theorien.[26] In der Vorlesung über Rhetorik im Winter 1872
wird demonstriert, dass Musik, Rhythmus und Sprache auf eine derartige
Art und Weise miteinander verwandt sind, dass es für jeden
rhetorischen ein Analogon Satz in der Musik gibt. Rhythmus wird die
physiologische Komponente der Sprache und "den Nutzen jener elementaren
Überwältigung"(3.440), die den Menschen zum tanzen
bringt. Durch diese physische Auswirkung übt Rhetorik Macht
aus. Dies erklärt, warum als "ein Spiel auf der Grenze des
Ästhetischen und Moralischen" aufgefasst wird.[27] Nach 1875
wird die Rhetorik nur noch selten erwähnt. Dies weist aber
meines Erachtens nicht so sehr auf eine Veränderung in
Nietzsches Standpunkt als auf die Selbstverständlichkeit der
erworbenen Einsicht: diese wirkt nun in allen anderen Gedanken durch.
Ihr kenntheoretisches Pendant liegt darin, dass Begriffe die Dinge
nicht ausdrücken oder repräsentieren, oder wie es in
einer Kritik an Kants instrumenteller Sprachauffassung in Über
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne heisst: "(D)as
'Ding an sich ' (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit
sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht
erstrebenswert"(1.879). Ganz in Übereinstimmung mit seiner
Neudefinition der Wahrheit als "ein bewegliches Meer von Metaphern,
Metonymien, Antropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen
Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert,
übertragen, geschmückt wurden"(1.880-1) und mit
seiner Feststellung, dass "Abstraktionen Metonymien sind, d.h.
Vertauschungen von Ursache und Wirkung", dass also "jeder Begriff eine
Metonymie ist"(7.481) kommt Nietzsche zu der Schlussfolgerung, dass
Kant "...nur die Relationen der Dinge zu den Menschen (bezeichnet) und
zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe
(nimmet)"(1.879). Damit entkommt Kant ebenfalls nicht "jene(m) Trieb
zur Metapherbildung, jene(m) Fundamentaltrieb"(1.887). Wenn nach dessen
Ansicht die Wahrheit schon da ist, dann ist sie entweder unerreichbar,
weil sie ohne Folgen ist, aus denen wir sie ableiten könnten,
oder sie ist nur aus unserem sprachlichen Umgang mit ihr denkbar, nie
kennbar. Diese Einsicht radikalisiert Nietzsche. Wenn Rhetorik und
'Überwältigung' das Wesen der Sprache sind und das
vernünftige Argumentieren die sokratische Dialektik ihren
Ursprung in dieser rhetorischen Sprache hat, dann muss das heutige
Primat des vernünftigen Arguments vor der rhetorischen
Verführung die Folge des aktiven Vergessen seiner Herkunft
sein. "Alle rhetorischen Figuren sind logische Fehlschlüsse.
Damit fängt die Vernunft an"(7.486). Wenn dann die westliche
Philosophie und Wissenschaft sich diese argumentierende Sprache
zueignen, sich mit anderen Worten in deren vergessener Metaphorik
einnesteln, müssen sie immer wieder eine Logik reproduzieren,
die diesen Schein bestätigt. Bei der Beantwortung der Frage
der 'Herkunft der Logik' (3.471) in Die fröhliche Wissenschaft
beleuchtet Nietzsche aufs neue die physiologische Grundlage der Logik:
"Wer zum Beispiel das 'Gleiche' nicht oft genug aufzufinden wusste, in
Betref der Nahrung oder in Betref der ihmfeindlichen Thiere (...) hatte
geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als Der, welcher bei allem
Ähnlichen sofort auf Gleichheit rieth. Der
überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu
behandeln, ein unlogischer Hang denn es gibt an sich nichts Gleiches
hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen (...). Wir erfahren
gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so
versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns
ab"(3.471/2). Diese fast biologistische Reduktion bekommt eine
philosophischere Übersetzung, wenn an anderer Stelle
über Aristoles' 'Prinzip des Widerspruches' als Grundlage
jeder Beweisführung gesprochen wird, gegen das Nietzsche
sofort seine 'methodisches Misstrauen' einsetzt, das der schein
heiligen Vorläufigkeit von Descartes methodischem Zweifel
völlig fehlt. Nur die vermeinte Eindeutigkeit und Evidenz
logischer Prinzipien fordert, dass "man um so strenger erwägen
muss, was er im Grunde schon voraussetzt"(Wb, 85). "Gesetzt, es
gäbe ein solches sich selbstidentisches A gar nicht, wie es
jeder Satz der Logik (...) voraussetzt, das A wäre bereits
eine Scheinbarkeit, so hätte die Logik eine bloss scheinbare
Welt. (...) Das 'Ding' das ist das eigentliche Substrat zu A; unser
Glaube an Dinge ist die Voraussetzung für den Glauben an die
Logik. Das A der Logik ist wie das Atom eine Nachkonstruktion des
'Dinges'... Indem wir das nicht begreifen und aus der Logik ein
Kriterium des wahren Seins machen, sind wir bereits auf dem Wege, alle
jene Hypostasen: Substanz, Prädikat, Objekt, Subjekt, Aktion
u.s.w. als Realitäten zu setzen: das heisst eine physische
Welt zu konzipieren, das heisst eine 'wahre Welt' (dies ist aber die
scheinbare Welt noch einmal...)" (Wb, 85,86). Logik ist bereits eine
Scheinbewegung des Lebens selbst: "(D)as Muster einer
vollständigen Fiktion ist die Logik" (11.505). Die
'metaphysische Illusion', die die Tragödie wachruft, scheint
auch der durch die Logik abgestützten Welt zugrunde zu liegen.
Logik mit '(dem) begrifflichen Widerspruchsverbot' stützt sich
in einer doppelten Scheinbewegung auf den Glauben, dass es 'Dinge' gibt
und darauf dass diese mit Begriffen nicht nur beschrieben, sondern
sogar begriffen werden können: aber "die Logik gilt nur von
fingierten Wesenheiten, die wir geschaffen haben"(Wb, 86). Die Idee,
dass es 'Dinge' gibt, die den Worten zugrunde liegen, ist reine
'Fiktion': "Hier ist immer subintelligirt, das etwas, hierbei wird, sei
es nun in der Fiktion eines Klümpchen Atoms, oder selbst von
dessen Abstraktion, dem dynamischen Atom, immer noch ein Ding gedacht,
welches wirkt, d.h. wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten,
zu der uns Sinne und Sprache verleiten"(13.258). Was bleibt dann noch
übrig, wenn alle Begriffe nur noch in Worte gefasste Bilder
sind, die uns unwillkürlich zu Verallgemeinerungen
verführen? Die Lehre der Bewegung, schlussfolgert Nietzsche,
ist von Anfang an "eine blosse Semiotik und nichts Reales". Die
Mechanik scheint nichts als eine 'Bilderrede'(13.260). Trotzdem bleibt
dieser apollinische Schein unvermeidlich. Der Mensch ist nun einmal ein
selbstbewusster Schlafwandler: "das Bewusstsein, dass ich eben
träume, und dass ich weiterträumen muss, um nicht
zugrunde zu gehen"(3.417). Im Gegensatz zu ihren hochtrabenden
Ansprüchen erklärt die Logik das Leben genausowenig
wie die Kunst: auch sie macht dessen Spannung höchstens
erträglich. So verstanden scheint ihr Basisprinzip nicht die
Identität, sondern der Widerspruch zu sein. Nietzsches negativ
kritischer Ansatz hinsichtlich der Logik wird affirmativ kreativ sobald
er sie in Analogie mit der Rhetorik, als eine Scheinbewegung auffasst,
die Macht ausübt. Sein affirmativer Ansatz gibt ihm ein, dass
"es der Gegensätze (bedarf), der Widerstände, also,
relativ, der Übergreifenden Einheiten..." (13.260). Doch
schiebt er strategisch hin und her und verändert er aus
strategischen Erwägungen immer wieder seine Position. Sobald
er zum Beispiel seine Kritik gegen die Logiker und Metaphysiker
richtet, weist er daraufhin dass "es keine Gegensätze (giebt):
nur von denen der Logik her haben wir den Begriff des Gegensatzes und
von da aus fälschlich in die Dinge übertragen" (WzM,
nr. 56).[28] Was unsichtbar 'hinter' "jene(m) ungeheure(n)
Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der
bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet" (1.888) den
Blick bestimmt, wird in seinen frühen Schriften noch
'Intuitionen' genannt. Im Anschluss an den dionysischen Rausch der
Mysterienriten qualifiziert er diese in späteren
Aufzeichnungen in den Worten der Mystik: "Eigentlicher Zweck alles
Philosophirens (ist) die intuitio mystica"(11.232) bemerkt er kurz nach
einer früheren Aufzeichnung "Kant überwunden". Dass
trotzdem das Gebiet der Sprache nicht verlassen wird wohl daraus
deutlich, dass Nietzsche an dem Appell an eine gewisse
'Vernünftigkeit' festhält: "das neue
MachtGefühl: der mystische Zustand und die hellste
kühnste Vernünftigkeit als ein Weg dahin" (11.211).
In 'Vernünftigkeit' klingt aber mehr mit als Vernunft: der
Begriff het auch etwas Strategisches an sich, das in dem Wort Klugheit
besser zum Ausdruck kommt. Falls die mystische Intuition schon eine
Rolle spielt, dann nur als eine neue Fiktion am Ende eines Weges der
nie der nie zu Ende gegangen werden kann. Dieser Weg ist und bleibt
für Nietzsche die Sprache. 2.
Aphorismus, Ironie und Parodie
"Wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns unsere
Sinne und Sprache verleiten". Nietzsche öffnet eine
Grossoffensive gegen die metaphysischen Illusionen dadurch, dass er die
Sprache gegen sie selbst ausspielt. Während der junge
Nietzsche[29] noch meint, dass "Sprechen und Schreibenkönnen
freiwerden heisst"(7.834), wird ihm langsam aber sicher deutlich, dass
die selbstspaltende Spannung des Daseins nur durch eine stilistische
Bearbeitung der Sprache in den Beschreibungen mitklingen of resonieren
kann. Die metaphysische Illusion der Grammatik muss von innen her
abgebaut werden. Dies tut er durch eine zunehmende Verflechtung von
Form und Inhalt in aphoristisch stilierten Texten. Nietzsches
Aufmerksamkeit für die Rhetorik wies bereits in die Richtung
einer Zersetzung des Gegensatzes zwischen Form und Inhalt. Diese
Zersetzung wird in seinem Schreibstil[30] definitiv
durchgeführt. Obwohl Stil das Schlüsselwort ist, wird
er keineswegs zum Ziel an sich, denn dann, meint Nietzsche in Ecce
Homo, würde er dessen beraubt, worum es Nietzsche geht: "Einen
Zustand, eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen, eingerechnet
das Tempo dieser Zeichen, mitzutheilen das ist der Sinn jedes
Stils"(6.304). Im Mit Teilen wiegt neben dem Aspekt des Beschreibens
möglicherweise die Erfahrung des Teil Habens an oder des
Zusammen Teilens von 'einer innerlichen Spannung und einem Pathos'
vermittels der Sprache gleich schwer. Im 'Mit Teilen', das sowohl aktiv
wie passiv aufgefasst werden kann und deshalb ein geeigneter medialer
Begriff für die Zersetzung der Opposition ist, kommt wieder
einmal die spaltende Wirkung des Willen zur Geltung. Nietzsches
Erklärung ist unzweideutig: 'Spannung' und 'Pathos' verweisen
zwar beide auf aussersprachliche 'Erfahrung', aber diese
präsentiert sich notwendigerweise in einem und als ein
Widerspruch in der Sprache. Die fortgesetzte Spaltung und die damit
verbundene Selbstverdopplung kehrt in den Texten in verschiedenen
Gestalten wieder: als Aphorismus und in der Ironie und Parodie. Auf
Nietzsches Kritik an jedem totalitären System anspielend nimmt
Löwith in dessen aphoristischem Stil einen "guten Willen zu
offenen Horizonten"[31] wahr.[32] Er versteht Nietzsches Werk als ein
"System von Aphorismen"[33], das von dem 'grundsätzlichen
Experimentalcharakter seines Philosophierens' zeugt. Der Aphorismus als
stilistisches Mittel eignet sich nämlich ausgezeichnet
für fortwährende Veränderungen der
Perspektive, mit anderen Worten: für Selbstspaltungen, wodurch
ein eindeutiger Standpunkt fortwährend fragmentiert wird.
Inhalt und Form sind durch die im allgemeinen metaphorisch geladene
Kompaktheit des Aphorismus so verflochten, dass seine Wirksamkeit von
dieser Opposition her kaum erklärlich ist. Seine eindringliche
Wirkung liegt vor allem in dem Wechsel der Perspektiven. Für
Nietzsche bedeutet dies, dass ein Aphorismus "damit, dass er abgelesen
ist, noch nicht 'entziffert' (ist)"(5.255). Dafür ist die
'Kunst der Auslegung' nötig. Wir müssen den
Aphorismus immer wieder wie eine Kuh wiederkäuen. Eine
eindeutige Auslegung, falls es die überhaupt gibt, wird durch
den zweiten selbstspaltenden Ansatz erschwert: durch Nietzsches
Ironie.[34] So bezieht hat Nietzsches Alter Ego Zarathustra eine
"naivironische Stellung zu allen heiligen Dingen"(12.150). Dessen
Selbstspott bedeutet "schadenfroh sein, aber mit gutem
Gewissen"(3.506). Ironie ist, soweit sie selbstspaltend oder
vernichtend ist, die literarische Variante der Genealogie. Ihre Kritik
trifft immer auch auf sie selbst zu: es ist, in Habermas' Worten, eine
Kritik, die bewusst "die Wurzeln der Kritik selbst angreift". Durch die
Einbettung der literarischen Ironie in die Genealogie bekommt die erste
einen methodischen Charakter. Als solche kann man Nietzsches Ironie
besser mit dem Begriff 'überironisch' charakterisieren.[35]
Dass es gegensätzliche Einschätzungen der Ironie
gibt, kann man auch jetzt wieder auf Nietzsches doppelte Position
zurückführen, die er angesichts des Charakters der
Genealogie und seiner Polemik mit der Wissenschaft einnimmt. Er
bewertet die Ironie als kritisches Instrument positiv, aber als
reaktive Haltung negativ. Letzten Endes erfordert diese Ironie ein
eigenes stilistisches Verfahren: die Parodie.[36] Eingebettet in die
Ironie bietet diese Form Nietzsche die Möglichkeit, sich
innerhalb der metaphysischen Gegensätze zu bewegen, ohne in
sie zurückzufallen. "Vielleicht, dass wir hier gerade das
Reich unserer Erfindung noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch
original sein können, etwa als Parodisten der Weltgeschichte
und Hanswürste Gottes, vielleicht dass, wenn auch nichts von
heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft
hat!"(5.157). Diesem Parodiebegriff liegt der von Cicero
übernommene Terminus 'dissimulation' zugrunde. Dass Nietzsche
diesen nicht mit 'Ironie', sondern mit 'Maske' übersetzt, ist
vielsagend. Parodie ist für ihn nämlich nur ein
grosses Maskenspiel, hinter dem sich kein wahres Antlitz verbirgt. Sie
besteht aus einer Vielfalt von Scheinbewegungen, denen kein definitives
Sein entspricht. Von einem 'demaskieren' im essentialistischen Sinn
kann bei Nietzsche also keine Rede sein. Das Verhältnis
zwischen Ironie und Parodie kommt vielleicht auf exemplarische Weise in
Die fröhliche Wissenschaft zum Ausdruck. Während im
ersten Aphorismus noch behauptet wird, dass wir von der Ironie genesen
müssen, endet das Gedicht, mit dem das Buch beginnt mit der
Regel: "Und lachte noch jeden Meister aus, der nicht sich selber
ausgelacht"(3.343), und das Ende des ersten Paragraph der Vorrede
lautet: "Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes
kündigt sich an: Incipit parodia; es ist kein
Zweifel..."(3.346). In Die fröhliche Wissenschaft, wo anstelle
der Eigenschaft 'fröhlich' ebenso gut 'tragisch' gelesen
werden kann, wird eine Vision auf ein anderes Wissen geschildert, auf
ein Wissen, das seine physiologische Grundlage bejaht, das heisst das
weiss, dass es an seinem eigenen Willen zur Wahrheit zugrunde gehen
muss. Das Wissen wird immer erlebt. Der parodierende Ton mit seinen
vielen ironischen Wendungen appelliert darum implizit an ein
Erlebnis.[37] Nietzsche sieht die Kenntnis, ganz in
Übereinstimmung mit der 'tragischen' Weltanschauung', in der
"sich Wahrheits und Weisheitstrieb versöhnt hatte"(Wb, 797),
vor dem Hintergrund einer un(be)greifbaren Totalerfahrung. Aber sobald
diese durch den modernen Menschen zur Sprache gebracht wird, geschieht
das unvermeidlich in Begriffen metaphysischer Gegensätze,
wodurch nur von einer Umkehrung die Rede zu sein scheint. Hierauf
scheint Nietzsche am Ende der Fröhlichen Wissenschaft
anzuspielen, wenn er den Übermenschen vor sich sieht: "Das
Ideal eines menschlich übermenschlichen Wohlseins und
Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird, zum Beispiel,
wenn es sich neben den ganzen bisherigen Erden Ernst, neben alle Art
Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und
Aufgabe wie deren leibhafteste, unfreiwillige Parodie hinstellt und mit
dem trotzalledem, vielleicht der grosse Ernst erst anhebt, das
eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele
sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie
beginnt..." (3.637). Die Zersetzung der Gegensätze und die
Entkräftung der Negation von einem indifferenten Punkt aus
tritt hier in einer ganz neuen Gestalt auf. Der Übermensch als
Parodie des Menschen ist mehr als dessen Verneinung selbst wenn der
Mensch ihn nur als seine Negation denken kann. Die Parodie, die diese
Verneinung zersetzt, zielt auf etwas äusserst 'Leibhaftes':
auf die Verkörperung '(der) grossen Gesundheit'. Sie kann
allerdings nur 'unfreiwillig' sein, weil sie durch die
beschränkte moral psychologische Optik des christlichen
Menschen als ein Idealtyp erscheint. Obwohl der Übermensch
keine Parodie im üblichen Sinn des Wortes ist, verhindert das
keineswegs, dass er innerhalb der westlichen Beweisführung als
solche erscheint. Worauf Nietzsche mit dieser 'Figur' abzielt, ist
vielleicht gerade eine Totalerfahrung und eine undenkbare Tatkraft, von
der er meint, dass sie jedem Wert zugrunde liegen müsse.
Zusammen mit den beiden anderen 'abgründlichen' Gedanken dem
Willen zur Macht und der Ewigen Wiederkehr des Gleichen scheint er
traditionelle Schemata zu parodieren: "Denn nur im parodischen Gebrauch
sind die Schemanetze zu überwinden, mit denen die
konventionelle Sprache jedes Denken und Erfahren der wirklichkeit
einfängt und verallgemeinert".[38] Dass die Parodie sich von
der Aporie und von Widersprüchen nährt wird wohl
daraus deutlich, dass, wie ich bereits am Anfang erwähnte, in
und zwischen den Gedanken allerlei logische Spannungen herrschen. Denn
wie kann der Mensch etwas denken, das grösser ist als er
selbst, ohne an diesem Gedanken zugrundezugehen? Und wie kann von der
metaphysischen Tradition aus ein Gedanke durchdacht werden, in dem
Werden (der Wiederkehr) und dem Sein (dem Ewigen), zwei einander per
Definition ausschliessende Prinzipien, zusammengefügt werden?
Zum Schluss: wie kann ein Wille gedacht werden, der keinen Wert im
Voraus feststellt der also keinen eindeutigen Anfang kennt , der aber
trotzdem auf Macht, das heisst auf den Fortbestand gegebener Werte aus
ist?[39] Ironie und Parodie bilden den Kern der durch Nietzsche
vertretenen 'fröhlichen Wissenschaft', in der die Logik mit
ihrem Prinzip des Widerspruchs zersetzt wird. Eine neue Art von
Kenntnis kommt zur Geltung, die weder kritisch noch dialektisch,
sondern tragisch ist: "Wissen ohne Mass und Grenze" (7.161). "Nun aber
eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt,
unaufhaltsam bis zu ihrer Grenze, an der ihr im Wesen der Logik
verborgener Optimismus scheitert"(1.101). In einer fröhlichen
Wissenschaft voller Widersprüche und Aporien geht die Logik
unter. Mit dem Sinnbild der Unendlichkeit vor Augen "Wenn er hier zu
seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich
selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst" transformiert
Nietzsche Wahrheit zu Weisheit dadurch, dass er sie ständig
gegen einen Erfahrungshorizont ein 'Erlebnis' hält. Aber die
'Leidenschaft der Erkenntnis', das Schöpferisch Bejahende des
Willens zur Wahrheit würde zu unerträglichen
Erkenntnissen führen, wenn es die Kunst nicht gäbe:
"Da bricht die neue Form der Erkenntnis durch, die tragische
Erkenntnis, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel
die Kunst braucht"(1.101). Nur diese Forme des genealogischen Wissens
ist nach Nietzsches Ansicht eine Logik, eine 'grosse Logik': "(L)a gaya
scienza; die leichten Füsse; Witz, Feuer, Anmut; die grosse
Logik; der Tanz der Sterne..."(6.37). Nur die 'Logik' des
fröhlichen oder tragischen Wissens, innerhalb derer die Aporie
ihre spaltende, aber schöpferische Wirkung ausübt,
bietet einen Zugang zum Sein: "Wenn der Widerspruch das Wahrhafte Sein,
die Lust der Schein ist, wenn das Werden zum Schein gehört so
heisst die Welt in ihrer Tiefe verstehen den Widerspruch verstehen.
Dann sind wir das Sein müssen aus uns den Schein erzeugen. Die
tragische Erkenntnis als Mutter der Kunst"(7.204; fettgedruckt ho). Mit
anderen Worten: tragische Kenntnis als penia, als Resonanz der
Indifferenz, als aporeia. 3. Aporie:
Räsonieren und resonieren, Denken
als Erfahrung
Der Widerspruch oder die Aporie blockiert das logische Denken und
öffnet gleichzeitig auf experimentelle Weise einen Zugang zum
Leben. Die Aporie erweckt in dem Denken selbst Widerstand, wodurch der
Erkenntnisprozess erst festläuft, um daraufhin seine
physiologische Grundlage in der Extase, in dem aus sich selbst
Heraustreten, zu offenbaren. Nietzsche definiert die Philosophie aus
seiner Einsicht in die ästhetische Legitimation der Welt neu.
Wie bereits gesagt hat das metaphysische Denken die Aporie
höchstens als heuristisches Moment, das immer
überwunden werden musste, geschätzt. Der Widerspruch
als logische Grundform der Aporie ist seit Beginn der westlichen
Metaphysik ein Stein des Anstosses gewesen. So dichtet Aristoteles in
seiner Aporetik dem Denker die Aufgabe zu, die am nächsten
liegenden Ziele auf dem Weg der Erkenntnis sichtbar zu machen. In
Metaphysica B heisst 'aporiai' noch ganz einfach 'Problem' oder
'Schwierigkeit'. Die Aufgabe des Philosophen ist es, diese 'Aporien' zu
durchdenken, damit er im Laufe seiner Forschung nicht auf unerwartete
Blockaden stösst. Wenn er diese 'aporai' übersieht,
wird er auf die Dauer unwiderruflich in strittige Schlussfolgerungen
verfallen: "Man muß derhalb erst alle Schwierigkeiten
(aporiai) in Betracht gezogen haben einerseits aus den schon
angeführten Gründen, dann aber auch deshalb, weil ein
Suchender, der sich nicht mit der Problematik der Dinge
beschäftigt hat, einem Wanderer gleicht, der nicht
weiß, wohin er gehen soll."[40] Gleich darauf verbindet
Aristoteles dies mit der logischen Tatsache "daß alles
entweder zu bejahen oder zu verneinen ist, oder daß alles
unvermögend ist, gleichzeitig zu sein und nicht zu sein und
was es sonst noch an derartigen Prämissen gibt"[41]. Hier
machen sich das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten und das Prinzip des
Widerspruchs geltend.[42] Diese werden durch Aristoteles aber noch
nicht im Kontext der späteren Legitimierung von Kenntnis
verstanden. Erst wenn das Selbstbewusstsein und die Vernunft bei Kant
Motor und Zentrum der Sinngebung und selbst des Steuerungsmechanismus
der Geschichte das autonome Subjekt werden, erst dann kann die Frage
nach einer Begründungsinstanz so gestellt werden, dass sich
die Aporie sozusagen von selbst aus dem Denkprozess heraus anbietet.
Wenn wir den Begriff 'Aporie' noch ausschliesslich als philosophische
Kategorie gebrauchen, in der das Unvermögen eine philosphische
Frage zu lösen zum Ausdruck kommt, so betraf es
ursprünglich, bevor der Begriff zu Platons Zeiten in die
Philosophie einging, den Begriff, mit dem in der alltäglichen
Sprache eine Erfahrung von Aussichtslosigkeit oder Unfrieden
ausgedrückt wurde. Nietzsche scheint auf diese griechische,
vor philosophische Bedeutung zurückzugreifen. Diese betrifft
eine Situation, in der man den Weg verloren hat oder von der
Güterverteilung ausgeschlossen ist, also keine
'Existenz'mittel mehr hat. Der privative Ausdruck aporia weist
ausserdem auf das Fehlen einer 'poreia: einer Wanderung, eines
Fortschritts, einer Reise oder eines Marsches. Man ist vom richtigen
Weg abgekommen und hat das Richtungsgefühl verloren. Es ist
diese Erschütterung oder Richtungslosigkeit, der bei Kant das
Denken in der Form eines unlösbaren, sich selbst generierenden
Widerspruchs oder einer Antinomie ausgeliefert wird. Im Anschluss an
diese 'dramatische' Erfahrung entwickelt sich nach und nach 'eine
spezifische philosophische Selbsterfahrung', in der die
selbstverständliche Übereinstimmung zwischen Denken
und Handeln problematisiert wird. Denken und Tun, Theorie und Praxis
stimmen, wie den vorsokratischen Denkern klar wird, nicht ohne weiteres
überein. Philosophische Einsicht in die wahre Art der Dinge
präsentiert sich nun als eine erneute Übereinstimmung
zwischen beiden. Erst in der 'Beoder Anschauung' kann die Aporie, in
der der Abstand zwischen Denken und Tun ausdrückt wird,
aufgehoben werden: so muss zum Beispiel Sokrates' Einsicht in den
Charakter der Ideen notwendigerweise ein tugendhaftes Leben nach sich
ziehen. Es ist diese Distanz zwischen Denken und Tun, durch
Löwith als existentieller Grundkonflikt beschrieben, die bei
Nietzsche, sei es im affirmativen Sinn, wiederkehrt.
4. Unbeabsichtigt mystisch oder bewusst mystifizierend
Aber ist Nietzsches Versuch, eine Totalitätserfahrung
heraufzubeschwören nicht eine Variante der Via negativa der
Mystik? Es stimmt, dass Nietzsche durch eine aporetische Komposition
seiner abgründlichen Gedanken deren Objektivität
problematisiert und seinen nach Zusammenhang strebenden Leser einer
verwirrenden Erfahrung ausliefert. Ausserdem ist es
überdeutlich, dass die Art, in der er das tut, viele
Ähnlichkeiten mit der 'Methode' der Mystiker aufweist:
"Möchte man nicht heute in Hinsicht der Moral sagen, wie
Meister Eckhardt: 'ich bitte Gott, dass er mich quitt mache
Gottes'"(3.535). Beim intensiven Lesen von Nietzsches Werk
drängt sich unwillkürlich das Vermuten auf, dass er
sicher bei dem Gedanken der Ewigen Wiederkehr die Variante einer
mystischen Erfahrung im Auge hat.[43] Denn auch die Mystik versucht die
Totalitätserfahrung indirekt durch paradoxale Formulierungen
mitzuteilen.[44] Nietzsches Bemerkung über den notwendigen
Zusammenhang zwischen Logik und Mystik, die durch Collis Beobachtungen
unterstützt wird, bestätigt dies Vermuten. Er meint
nämlich, dass die 'tragische Weltanschauung', in der Wahrheits
und Weisheitstrieb zusammengingen, durch 'die logische Entwicklung'
aufgelöst ist und "zwang zur Schöpfung der mystischen
Weltanschauung"(Wb, 797). Logik und Mystik sind für Nietzsche
anscheinend zwei Seiten ein und derselben Medaille. Kritik der Logik
betrifft dann auch indirekt die Anmassung der Mystik, die Sprache
übertreffen zu wollen. Im ganzen Werk finden wir zahlreiche
Bemerkungen über die Mystik zurück. Es gibt dort
natürlich Passagen, in denen negativ kritisch eine 'erreichte
unio mystica'(5.381) als "das hypnotische Nichts Gefühl, die
Ruhe des tiefen Schlafes, Leidlosigkeit kurzum"(5.382) abgetan wird.
Diese Bemerkung suggeriert, dass Nietzsche manchmal die unio mystica
der penia der anfangs noch als privative Leere gethematisierten
Indifferenz gleichstellt, eine Ansicht, die er später als
metaphysisch verwirft. Aber im Frühjahr 1884
erläutert er das Verhältnis zwischen Musik, Denken
und Musik im posisitiven Sinn: "Die Musik als Nachklang von
Zuständen, deren begrifflicher Ausdruck Mystik war
Verklärungs Gefühl des Einzelnen, Transfiguration".
Die Zufügung "Oder: die Versöhnung der inneren
Gegensätze zu etwas Neuem, Geburt des Dritten"(11.75))
lässt sich nur dialektisch deuten, wenn wir alle anderen
Elemente, die auf einen 'Zustand' oder ein Pathos und nicht auf eine
begriffliche Aufhebung hinweisen, verwahrlosen. Es stimmt also ohne
weiteres, dass Nietzsches Sprach und Bildgebrauch in hohem Mass der
Mystik entliehen ist. Vor allem in Also sprach Zarathustra nimmt der
Gebrauch von stilistischen Prozeduren des mystischen Sprechens zu.
Giorgio Colli weist in seinen Nachworten zu den verschiedenen Texten
aus der Entstehungszeit von Also sprach Zarathustra immer wieder auf
diese mystische Tendenz hin, aber er bemerkt meines Erachtens zurecht,
dass "die dionysische Unmittelbarkeit (...) nicht notwendig auf eine
unzugängliche mystische Erfahrung anspielt"(4.414). Diese
dionysische Unmittelbarkeit unterscheidet sich von demjenigen, worauf
die Mystiker, deren Sprechen sich "um eine einzige, unbeschreibliche
Erfahrung" dreht, als "eine fundamentale Ekstase" zielen. Auch
Löwith betont in seiner Besprechung von der Ewigen Wiederkehr,
dass "eine mitteilbare philosophische Lehre sich nicht mit dem blossen
Hinweis auf eine ekstatische Vision oder einen Entwurf kann
begnügen"[45]. Bei der Behandlung der hinterlassenen
Fragmenten dieser Periode weiht Colli diesem mystischen Hintergrund
einen ausführlichen Kommentar: "Es ist daher wahrscheinlich,
dass das antisystematische polemische Motiv in dieser Periode noch
nicht den üblichen skeptischen, sondern einen mystischen
Hintergrund besitzt" (11.719). Nietzsches Ansatz unterscheidet sich
trotzdem fundamental von dem der Mystiker. Der durch ihn selbst in
seinen Aufzeichnungen gebrauchte Gegensatz 'esoterisch
exoterisch'(12.187) bestätigt dies. In einer kurzen Notiz
scheint er Kants Antinomien zu parodieren: "1. alles ist Wille gegen
Willen/2. Es giebt gar keinen Willen. 1. Causalismus/2. Es giebt nicht
wie Ursache-Wirkung." (12.187). Nach Collis Ansicht fällt
Nietzsche mit dieser antinomischen Komposition "auf die antike
Unterscheidung zwischen gemeinverständlicher Mitteilung und
mystischer Ausdrucksweise"(13.651) zurück. Wenn dies bedeutet,
dass er den Widerspuch zum Ausdrucksmittel schlechthin macht, scheint
mir das eine richtige Schlussfolgerung. Wenn Colli zum Schluss bemerkt,
dass der Wille zur Macht "nichts anderes ist als der esoterische
Ausdruck seines Denkens"(13.653), würde ich dem
hinzufügen wollen, dass Nietzsches Denken gleichzeitig eine
Gestalt dieses 'beschriebenen' Willens zur Macht ist. Nietzsche
fährt fort, sich innerhalb der Sprache zu bewegen. Im
Gegensatz zu den Mystikern verwirft er jede ontologische Extrapolation.
Sprache, das heisst philosophisches Schreiben und Lesen werden bei ihm
zu einer souveränen Erfahrung, die um ihrer selbst willen
aufgesucht wird. Meiner Meinung nach schöpft Nietzsche gerade
aus dieser fast unnachahmlichen Verflechtung von Inhalt und Form nicht
so sehr Wahrheit als die Überzeugungskraft, durch die und von
der die Philosophen bis auf den heutigen Tag aufgerührt werden.
[1] Schon in einer der frühsten Studien über
Nietzsches Werk und zwar von Theodor Lessing (Nietzsche. 1925) hiess
es: "Wir werden im folgenden sehen, dass diese beiden in Nietzsches
Geist miteinander ringenden Gedanken, der ethische und der kosmische,
unvereinbar blieben, und dass an ihrem Gegensatz und Widerspruch
Nietzsches Denken zerbrach" (Nietzsche. Matthes & Seitz,
München 1985, 73-74).
[2] Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen
Wiederkehr des Gleichen. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1986, 14.
[3] Für Zitate aus Nietzsches eigenem Werk verweise
ich so viel wie möglich auf die durch Giorgio Colli und
Mazzino Montinari bearbeitete Ausgabe: Friedrich Nietzsche,
Sämtliche Werke. Studienausgabe. 15 Bände, Verlag de
Gruyter, Berlin/ New York, 1967. Zitate aus Nietzsches Briefen (De
Gruyter Verlag Berlin/New York 11957-1984) werden mit einem B. und der
Nummer Des Teils und der betreffenden Seite angedeutet. Aber manchmal
wird auf den durch Würzbach ausgewählten Nachlass
(Wb) und auf die Falsifikation Der Wille zur Macht (WzM) verwiesen.
[4] Lessing versuchte es. Wolfgang Müller Lauter
verschafft in der kurzen Einleitung zu Nietzsche. Seine Philosophie der
Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie
(Walter de Gruyter, Berlin/New York 1971) eine Übersicht der
Denker, die versucht haben auf die eine oder andere Weise mit
Nietzsches 'Widersprüchlichkeit' abzurechnen.
[5] Den durch Müller Lauter erwähnten
Studien müsste man die Texte von Gerd Kimmerle, Die Aporie der
Wahrheit (Tübingen 1983) und Jürgen Habermas,
"Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe" in: Der
philosophische Diskurs der Moderne (Frankfurt a/M, 1985. 104-129)
hinzufügen.
[6] Sieh Martin Heidegger, Gesamtausgabe. II. Abteilung:
Vorlesungen 1923-1976. Band 43. Nietzsche : Der Wille zur Macht als
Kunst. Frankfurt a/M 1985, 36. Heidegger ist ausserdem der Meinung,
dass Nietzsche als Übergang in der Destruktion des Alten
bereits einen Ansatz zum Neuen macht.
[7] Einen Versuch, Heideggers Kritik zu entkräften
finden wir bei Müller Lauter, 30ff.. Heidegger
unterschätzt die Rolle der Sprache bei Nietzsche
gründlich und zwar wahrscheinlich, weil er sich
ausschliesslich mit dem Frühwerk und dem Nachlass
beschäftigt. In "Heideggers Nihilismus: Nietzsche als
Interpret Heideggers" (in: Kunst und Technik.
Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger.
Walter Biemel, Friedrich Wilhelm von Hermann (Hrsg.), Vittorio
Klostermann, Frankfurt a/M 1989) weiss der Heideggerianer Gianni
Vattimo Nietzsches sprachstrategischen Einsatz wohl zu
schätzen. Er meint sogar dass "eine gewisse Notwendigkeit
besteht, Heidegger in seiner Nietzsche Interpretation zu 'verraten',
wenn man seinen authentischen Absichten treu bleiben will" (143).
Vattimo erkennt die explosive Kraft in Nietzsches Werk. Er
erklärt den blinden Fleck bei Heidegger nicht nur aus der
Verwahrlosung von Nietzsches mittleren Schriften, sondern
äussert selbst den Gedanken, dass Heidegger vielleicht wohl
das ängstliche Vermuten hatte, dass er dort ((...)) einen
Nietzsche vorfinden könnte, der sein eigenes post
metaphysisches Projekt, in dem "die Sprache das Haus des Daseins"
werden sollte, nicht nur erahnt, sondern swogar bereits begonnen hatte.
Luc Ferry weist seine Leser in Homo Aestheticus (Grasset, Paris 1990)
ebenfalls auf diesen Aspekt hin. Ausserdem greift er, gleichfalls im
kritischen Sinn, auf Heideggers Interpretation zurück. Seiner
Meinung nach kann man wohl kaum leugnen, "que la pensée de
Nietzsche soit déjà beaucoup plus proche de celle
de Heidegger que ce dernier ne laisse entendre" (209).
[8] Sieh: Rudolf Reuber, Ästethische Lebensformen bei
Nietzsche. Wilhelm Fink Verlag, München 1988, 44ff..
[9] Karl Löwith suggeriert dies, wenn er hinsichtlich
der physiologischen und materialistischen Aspekte der Ewigen Wiederkehr
bemerkt, dass "die dionysische Gleichheit (... sich auflöst)
in das nihilistische 'Alles ist gleich' eines der Welt entfremdeten
Daseins und in die positivistische Indifferenz einer dem Mensch
entfremdeten Welt"(88).
[10] Die nicht oppositionelle Struktur des Dionysischen und
des Apollinischen nimmt so ihre ersten Kontouren an. Colli meint in der
Geburt der Philosophie (Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt
a/M 1981 (Milan 1975) aufgrund weiterer philologischer Forschung, dass
absolut keinen Gegensatz zwischen Dionysos und Apollo besteht (74) und
kritisiert Nietzsche aufgrund dessen. Mir scheint seine Kritik nicht
ganz zurecht. Wenn schon nach einer Opposition gesucht werden muss,
dann finden wir die eher in dem Gegensatz zwischen dem mit dem
Apollinischen verquickten Dionysischen und dem sogenannt Sokratischen:
"Das ist der neue Gegensatz: Das Dionysische und das Sokratische"
(1.83). Im Unterschied zum Apollinischen, das die Zersetzung der
Einheit und des Zusammenhanges, die es auferlegt hat, prinzipiell
zulässt, schliesst das Sokratische mit Hilfe des dialektischen
Argumentierens und der Logik jeden Verstoss aus. Es wendet sich gegen
die Tragödie und damit gegen das als Widerspruch
charakterisierte Leben. So usurpiert das Denken das Leben und wird das
Sokratische zu einem tautologischen Ereignis.
[11] Im Gebrauch von Begriffen wie 'Wesen' und 'Sein'
offenbart sich noch der Einfluss von Schopenhauers Ideen, die stark
metaphysisch gefärbt sind. Nietzsche wird sich in
späteren Texten, aber vor allem in dem Vorwort zur zweiten
Ausgabe der Geburt der Tragödie (1886), von dieser Sucht nach
'Artistenmetaphysik' distanzieren (1.13).
[12] Das 'Pathos' verweist auf eine physiologische
Sphäre. Es wird nicht mehr durch das Subjekt geschaffen,
sondern dieses wird dem Pathos ausgeliefert. Dies heisst, dass das
Subjekt immer unter dieser Spannung steht. Das kommt in dem
griechischen ÒÓÕx-iv zum Ausdruck, das
ausser 'erfahren' noch 'leiden', 'fühlen', 'in eine Stimmung
kommen oder in einer Stimmung sein' und 'einen Eindruck bekommen oder
eine Wahrnehmung machen' bedeutet. In einem abgeleiteten Sinn bedeutet
'paschein' ausserdem Begierde und Verlangen, was in Nietzsches
Auffassung vom Willen ebenfalls durchklingt.
[13] Sieh Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Hamburg
1955, 22; Rudolf zur Lippe, Le corps et ses fictions. Paris 1982, 30.
[14] Jean François Lyotard weist in
"Réécrire la modernité" (in
L'inhumain. Galilée, Paris 1988) auf diese aporetische
Spannung hin, 'ce leurre' bei Nietzsche, Marx und Freud: "On sait
combien la réécriture ainsi comprise peut
être trompeuse à son tour. Le leurre
réside en ceci que l'enquête sur les origines du
destin fait ellemême parti de ce destin" (36). Im Hinblick
auf Nietzsche stimmt er Heideggers Kritik zu.
[15] Sieh Vorrede von Phänomenologie des Geistes (in:
Werke. Band 3. Suhrkamp, Frankfurt a/M 1970, 61).
[16] Dieser Gedanke ist nicht so einzigartig. Auch Hegel weist
am Ende von Wissenschaft der Logik darauf hin: "Wenn man sagt, dass der
Widerspruch denkbar sei, so ist er vielmehr im Schmerz des Lebendigen
sogar eine wirkliche Existenz" (II.481).
[17] Sieh G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik II. Theorie
Werkausgabe, Suhrkamp, Frankfurt a/M 1969, 3580.
[18] Sieh Hegel, o.c. 445.
[19] Logischerweise kann man hier besser auf Schelling
verweisen, als auf Kant, in dessen Werk dieser Begriff kaum vorkommt.
Hegel und Schelling haben hierüber einen gemeinsamen
Standpunkt, der in Hegels Differenz Schrift (1801/2) auseinandergesetzt
wird. Sieh G.W.F. Hegel, Jenaer Kritische Schriften (I). Felix Meiner
Verlag, Hamburg 1979), 94/5. Es ist aber wahrscheinlicher, dass
Nietzsche Schelling indirekt oder aus zweiter Hand aus dessen Vorlesung
von E. Hartmann perzipiert hat. Sieh dazu: Reuben, o.c., 59ff.. Sieh
ausserdem zum Verhältnis zwischen Nietzsche und Schelling:
Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue
Mythologie. 1. Teil, Frankfurt a/M 1982, 344-347/332/352/Fussnote 6,30.
[20] Bei Nietzsche ist der 'Einzelne' ein Synomym für
die merkwürdige Mischung des sokratischen Dämons und
des kantischen Genies, das selbst "nicht weiss, wie sich in ihm die
Ideen dazu herbei finden, auch es nicht in seiner Gewalt hat,
dergleichen nach Belieben oder planmässig auszudenken"
(B183/A1-81). Den Begriff des Dämons entnimmt er Platons
Symposium, auf dem Sokrates, während er über den
Charakter des Eros spricht, aus Diotimas Mund vernimmt, dass Eros weder
Gott noch Mensch ist , sondern ein Dämon
(ÙÓi(oviov) "das Mittelglied zwischen Gott und
Mensch" (Symp. 202d). Dieser 'daimonion' kommt in der Apologie als ein
'Genius' zurück, dem Sokrates seine 'Eingebungen' verdankt.
[21] Sieh Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biografie. Band
1, DTV, München 1981, 121.
[22] Plato, Symposion. 203b,c (vet. ho). Vertaling van Franz
Susemihl, in: Platon. Sämtliche Werke. Erster Band, Verlag
Lambert Schneider, Berlin 19.., p. 700.
[23] Mit dieser Verwechslung kann es noch anders laufen. So
taucht in Menschliches. Allzumenschliches I unter dem Titel
'Liebesheirathen' folgende Paraphrase davon auf: "Die Ehen, welche aus
Liebe geschlossen werden (die sogenannten Liebesheirathen), haben den
Irrthum zum Vater und die Not (das Bedürfnis) zur Mutter"
(2.267). Poros wird nun 'Irrthum', während die Liebe/Eros
wieder ein Produkt ist. Im zweiten Teil dieses Textes gibt es unter dem
Titel 'Liebe' gleichfalls einen Hinweis (2.414). Das Begriffspaar Not
Irrtum wird in den Aufzeichnungen des Frühjahrs 1877 wieder
aufgenommen, in denen Platons Bevorzugung der Ideenwelt
gegenüber der Sinnenwelt kritisiert wird: "Aber Noth als
Mutter, Irrthum als Vater haben den Glauben geschaffen" (8.380). Ehen
aus Liebe und Glauben an eine ideale Wirklichkeit werden aus der Ehe
von Not und Liebe geboren. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, dann
können allerlei Begriffe so wie das Cogito, das Subjekt oder
Hegels Absoluter Geist als Fiktionen qualifiziert werden. Dies sind
anscheindend notwendige Scheinbewegungen oder Fiktionen, deren
universalen Inhalt Nietzsche zwar entlarvt, die er aber trotzdem als
notwendige Fixationen der 'Leidenschaft der Erkenntnis' anerkennt.
Diese 'Demaskierung' ist sein genealogischer Gegenzug gegen historisch
überlebte 'Verschleierungen' ('metaphysischer Illusionen')
über eine grundsätzliche Dissonanz.
[24] Während das dem Begriff zugrunde liegende Verb
'porein' unter anderem verschaffen, zustande bringen, verleihen und
geben bedeuten kann, bekommt es in der unpersönlichen Form des
Perfekts der passiven Form 'peprotai' die Bedeutung von vorbestimmt
sein (wörtlich: 'Es ist vorbestimmt'). Dass das davon
abgeleitete Substantiv 'pepromenon' Los oder Schicksal heisst, was auch
durch die Verbindung dieses Begriffes mit Moira, einer der
Schicksalsgöttinnen, bestätigt wird, weist auf seine
typisch vor christliche Bedeutung. Die Griechen entliehen ja
bekanntlich die Bedeutung und Richtung ihres Lebenswandels dem durch
die Götter gelenkten Schicksal. Und eben die Hemmung dieses
Schicksals durch Übermut ((....)), diese aporeia, ist das
Thema der Tragödie. Sieh: A Greek English Lexicon. Henry
George Liddel/Robert Scott, Clarendon Press Oxford 1968, 1449/1451-2.
[25] Dieser doppelte Ansatz stimmt mit Heideggers Bemerkung
überein, dass der Destruktion bereits das Neue in sich
trägt. Die durch Nietzsche vollzogene
'Übergangsbewegung' wird bei Norbert Bolz Eine kurze
Geschichte des Scheins (München 1991) auch hinsichtlich der
Rhetorik bemerkt. Er spricht über "affirmative und kritische
Motive" (54). Sieh ausserdem Fussnote 23.
[26] Curt Paul Janz zum Beispiel weist darauf hin, dass
Nietzsches Beschäftigung mit Aristoteles nicht so sehr dessen
Metaphysik oder Ethik betrifft, sondern vor allem dessen Rhetorik und
Poesie. Kants Schriften kennt Nietzsche hauptsächlich durch
Kuno Fischer. Nur die Kritik der Urteilskraft hat er unmittelbar
gelesen (I.404).
[27] Sieh Bolz, o.c., 56. Nietzsches Aufwertung der Rhetorik
führt aufs neue zu Aporien. Bolz weist darauf hin, dass man
einen Unterschied zwischen 'affirmative(n) und kritische(n) Motive(n)'
(54) machen muss, wenn man ein deutliches Bild von der Bedeutung der
Rhetorik in Nietzsches Werk bekommen will. In deren gegenseitiger
Verflechtung verbirgt sich aber eine Aporie: die
Überzeugungskraft der Rhetorik wird vernichtet, sobald diese
als ein System von Tropen beschaut wird. Die Affirmation wird in der
Kritik vernichtet. Auch hinsichtlich der Metapher als Grundlage der
Wahrheit findet solch eine 'Verdopplung' statt. Colli weist darauf hin:
"Nietzsche selbst begeht die Sünde der Metapher, indem er
alles in metaphorischen Termini erklärt, denn der von ihm
vorgeschlagene Metapher Begriff ist seinerseits eine interpretatorische
'Metapher' eines lebenswichtigen und universalen Prozesses, der der
Metapher ähnlich ist, sie einschliesst, aber andere,
komplexere und weniger greifbare Merkmale aufweist." (1.918)
[28] MüllerLauter weist ebenfalls auf das Problem:
"Nietzsche nimmt auf diese Weise die Gegensätzlichkeit, die
ihm zufolge dem Wirkliche zukommt, in Schutz gegen die
Ansprüche der Logik. Dabei steht ihm allerdings vor Augen,
dass aus dem logischen Postulat der Widerspruchslosigkeit nun selber
eine freilich nur scheinbare Gegensätzlichkeit
erwächst, die jedoch den wirklichen Gegensatzcharakter des
Lebens verschleiert. Die Ausscheidung entgegengesetzter Bestimmungen
aus einem Sachverhalt kann das Ausgeschiedene nicht schlechtweg
negieren, da es faktisch vorgefunden wird b.z.w. sich immer erneut
aufdrängt. Sie trennt es nur von dem ab, das mit sich selbst
identisch ist. Das Abgetrennte kann dann nach dem Schema der
Identität weiter gegliedert werden" (14).
[29] Die Überzeugung von der Wichtigkeit des Stils
((Die Wichtigkeit des Stils... is in het Duits een lelijke zin)) kommt
bei ihm ebenso plötzlich wie radikal zum Durchbruch. In einem
Brief vom 6. April 1867 (!) an Carl von Gersdorff erwähnt er
eine lähmende Einsicht: "Mir fallen die Schuppen von den
Augen: ich lebte allzulange in einer stilistischen Unschuld. Der
kategorische Imperativ: "Du sollst und musst schreiben!" hat mich
aufgeweckt. Ich suchte nämlich, was ich nie gesucht hatte
ausser auf dem Gymnasium: gut zu schreiben, und plötzlich
erlahmte die Feder in der Hand. (...) Ich möchte wahrhaftig
nicht wieder so hölzern und trocken, nach der logischen
Schnürbrust schreiben, wie ich es z.B. in meinem
Theogenisaufsatz getan habe..." B2, 208-209).
[30] Besser: in seinen Schreibstilen. Sieh für die
Behandlung dieses Themas: Jacques Derrida, Éperons. Les
Styles de Nietzsche. Flammarion, 1971. Gerade der Gebrauch von
Metaphoren und historischen Wendungen macht Nietzsches Werk in Augen
mancher, worunter Dilthey, letzten Endes zu einem literarischen Werk.
Bis heute greifen Kritiker den Gegensatz literarisch philosophisch
immer wieder an, um den philosophischen Gehalt seines Werkes zu
bagatellisieren. "Sobald wir den literarischen Charakter von Nietzsches
Schriften ernstnehmen, muss die Triftigkeit seiner Vernunftskritik nach
Masstäben des historischen Gelingens und nicht der logischen
Konsistenz beurteilt werden." (Habermas, 1985,222). Das Fehlen
logischer Konsistenz, das sich selbst vielfältig
Widersprechen, all diese merkwürdigen aporetischen Wendungen,
an denen sein Werk reich ist, sind für jemanden wie Habermas
zum Beispiel unannehmbar. Aus diesem Grund beurteilt er in Der
philosophische Diskurs der Moderne (1985) Nietzsches philosophisches
Projekt negativ, weil es sich der Basisaporie ausliefert, wodurch es
sich selbst 'dementiert'. Nietzsches Kritik "ist eine, die die Wurzeln
der Kritik selbst angreift" (126) und sich in "(die) Aporien einer
selbstbezüglichen Kritik der Vernunft" (121) verwickelt.
Habermas steht vor einer einfachen Wahl: Logik oder Rhetorik. Aber
damit unterschätzt er die Wirkung der Sprache und
übersieht er Nietzsches methodische Entscheidung für
die Aporie.
[31] Löwith, o.c., 18.
[32] Begriffshistorisch finden wir die Verwandtschaft zwischen
Aphorismus und Horizont in 'aphorizo' zurück, was 'abstecken,
trennen, die Grenze bestimmen, definieren' heisst. In 'aphorizo' steckt
'horizoo' van 'Horizont', was seinerseits wieder 'horos' oder 'Grenze',
Säule,, Pfahl, Masstab oder Definition' umfasst. ((Ik heb van
deze zin twee zinnen moeten maken, omdat de zinsbouw niet klopte)) Der
Aphorismus kann dementsprechend auch als ein stilistischer Ausdruck
eines sich selbst bewussten Perspektivismus verstanden werden.
[33] Löwith, o.c., 15.
[34] Damit schliesst sich Nietzsche anfangs der romantischen
Tradition an, wie diese vor allem durch Friedrich Schlegel im Anschluss
an Fichtes Philosophie behandelt wurde. Dessen 'kontrapunktischer Gang
des Geistes', wie Behler dies in "Die Kunst der Reflexion. Das
frühromantische Denken im Hinblick auf Nietzsche", in
Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift für
Benno von Wiese (Berlin 1973, 22) nennt, worin die
Überschreitung vom und Zurückkehr zum Ich den Motor
der Geistestätigkeit bilden, wird ((enkelvoud, omdat het
volgens mij slaat op 'Geist')) bei Schlegel ästhetisiert. Er
sieht das System als Kunstwerk, das immer seiner eigenen Spaltung
blossgestellt ist. Ironie ist seiner Ansicht nach als
ästhetisierte Selbstreflexion der höchste Ausdruck
des Geistes. Das begrenzte Ich lebt von dieser fortwährenden
Selbstüberschreitung. Lust und Schmerz, Machtserweiterung und
Selbstverlust gehen dabei ineinander über. Ironie
bekräftigt nur diese doppelte Bewegung. Dass Schlegel sich der
aporetischen Struktur dieser Selbstbewegung bewusst ist, wird wohl aus
durch ihn gebrauchten Ausdrücken wie 'Antinomie der Bildung'
oder 'Form des Paradoxen' deutlich. Das Denken fängt an zu
'schweben' und verfängt sich in einem 'Oszillieren ' zwischen
unvereinbaren Widersprüchen: "Es ist gleich tödlich
für den Geist, ein System zu haben, und keines zu haben. Er
wird sich also wohl entschliessen müssen, beides zu
verbinden." Diese pseudo dialektische Verbindung fehlt aber bei
Nietzsche.
[35] Sieh dazu Léon Hansen, "De prikkel der
onvolkomenheid. Nietzsche en de ironie van de geschiedenis", in: Ernst
& Ironie. Over ironie, geschiedenis, politiek en kunst,
Groniek, Gronings Historisch Tijdschrift, Nr. 100, 1988, 46.
[36] Das griechische Wort 'parodie' bedeutet an erster Stelle
eine 'komische Nachahmung'. 'Parodos' hat ausserdem die Bedeutung einer
indirekten, düsteren Verweisung. Ich möchte es, ganz
im Gegensatz zu den gebräuchlichen Begriffsumschreibungen,
aufgrund des Stammwortes 'hodos' als 'Weg' lesen. 'Parados' bedeutet
nicht nur wie Poros 'Zugang' oder 'Durchgang', sondern auch 'nach vorne
kommen' oder 'erscheinen'. Vor allem diese letzten Bedeutungen passen
zu der Weise, worauf Nietzsche dieses Stilmodell als affirmative
Scheinbewegung gegen den von allem abstrahierenden und die konkreten
Gestalten übersteigenden 'metahodos' oder Methode einsetzt.
[37] So beginnt Die fröhliche Wissenschaft mit der
Bemerkung: "Diesem Buch thut vielleicht nicht nur eine Vorrede noth;
und zuletzt bliebe immer noch der Zweifel bestehn, ob Jemand, ohne
etwas Ähnliches erlebt zu haben, dem Erlebnisse diese Buchs
durch Vorreden näher gebracht werden kann" (3.345).
[38] Heinz Krüger,Studien über den
Aphorismus als philosophische Form. 1956, 91.
[39] Sieh für eine weitere Behandlung dieser
Thematik: Henk Oosterling, Schijnbewegingen in de filosofie, filosofie
als schijnbeweging. Rotterdams Filosofische Studies, Dissertatiereeks,
Rotterdam 1994.
[40] Sieh: Aristoteles, Metaphysik, III(B)1, 995a. 33-36.
Vertaling Friedrich Bassenge, Aufbau Verlag, Berlin 1960, p. 54.
[41] Ebenda, 996b 29-30.
[42] Auf den Zusammenhang zwischen Weisheit und Wahrheit,
zwischen Mystik und Logik macht Colli aufmerksam. Rätsel und
Dialektik hängen eng zusammen. Durch die
Säkularisierung des Rätsels als mystische Erfahrung
auf dem Wege über die Mantik zu einer diskursiven Agnostik
nimmt die Dialektik langsam Gestalt an. Aristoteles schliesst diese
Entwicklung ab (Colli, o.c., 67 ff.). Neben dem Begriff 'Problem', der
wörtlich 'Gegen Stand' bedeutet und im 5. Jahrhundert noch
für 'ein Rätsel aufgeben'und 'eine dialektische Frage
stellen' gebraucht wird, ruft Colli auch "die Ausdrücke
'Befragung', 'Aporie', 'Untersuchung' und 'doppelsinnige Frage' " in
Erinnerung: "Mystisches und Rationales wären demnach in
Griechenland keine Gegensätze, sondern müssten als
zwei aufeinanderfolgende Phasen eines grundlegenden Phänomens
verstanden werden" (73). Der Opfergedanke kann auf diese Weise mit der
Aporie verbunden werden. Colli weist darauf hin, dass "gleichsam etwas
Rituelles im Bild des dialektischen Zusammenstosses (liegt)" (74).
Verliert einer der Kämpfer diesen 'Agon', dann heisst dies
"ein Opfer vollziehen" genauso wie bei dem Rätsel der Sfinx
von Thebe, obwohl dies später nur im übertragenen
Sinn geschah.
[43] Sieh hierzu: Pierre Klossowski, Nietzsche ou le cercle
vicieux. Mercure de France, Paris, 1978.
[44] Sieh dazu: K. Verrijcken, "Apokastasis en herhaling:
Nietzsches eeuwigheidsbegrip", in: Tijdschrift voor filosofie, 4,
Leuven 1989, 649- 668. "Paradoxe wie diese ('Schwere, die leicht ist',
ho) bieten, wie es scheint, einen geeigneten Ausgangspunkt für
eine Analyse des Begriffes der ewigen Wiederkehr entsprechend seiner
kennzeichnendsten Struktur, nämlich als coincidentia
oppositorum (...). Nietzsches Ewigkeitsbegriff scheint eine Vielfalt
antithetischer Bestimmungen in sich zu vereinigen." (650)
[45] Löwith, o.c. 1986, 98. |